Tom Rachman: „Die Gesichter“

Von einem Debütroman kann man begeistert sein; an dem Nachfolger, dem zweiten Roman, trennt sich oft schon die Spreu vom Weizen; jedoch spätestens bei dem dritten Buch sucht man nach Gemeinsamkeiten und charakteristischen Sujets; wenn man Glück hat, lässt sich ab diesem Punkt auch über die Jahre eine schriftstellerische Entwicklung herausarbeiten.

„Die Gesichter“ ist Tom Rachmans dritter Roman. Nach seinem fulminanten Erstling „Die Unperfekten“ (2010) und dem vielschichtigen und temporeichen zweiten Roman „Aufstieg und Fall großer Mächte“ (2014) sind die Erwartungen groß, die man an „Die Gesichter“ (Originaltitel: „The Italian Teacher“, 2018) stellt.

Diese Erwartungen werden nicht enttäuscht, ganz im Gegenteil! Während „Die Unperfekten“ im hektischen Tagesgeschäft der Medien- und Zeitungswelt angesiedelt ist und sich „Aufstieg und Fall großer Mächte“ mit den großen Spannungsbögen des gesellschaftlichen und des persönlichen Lebens auseinandersetzt, spielt „Die Gesichter“ überwiegend in der Welt der Künstler, der Kunst und ihrer Märkte.

Sucht man nach einer gemeinsamen Linie, die alle drei Romane des Autors durchzieht, so findet man sie vielleicht am ehesten in jener Perspektive, aus der uns der Erzähler seine Geschichten erzählt — jene Perspektive nämlich, aus der jede Figur permanent ihre Eingebundenheit und Verwobenheit mit den gesellschaftlichen und politischen Strukturen ihrer Welt fühlt und gegen deren Zwänge anzukämpfen versucht.

Doch gerade in „Die Gesichter“ finden wir noch eine zweite Hauptebene (und dahinter und darunter natürlich noch viele weitere Ebenen), welche die Geschichte so besonders macht. Es ist das vielleicht konfliktträchtigste Spannungsfeld des menschlichen Daseins schlechthin, das Verhältnis von Kindern und Eltern, in diesem Fall das Verhältnis von Vater und Sohn, ein Sujet so alt wie das Geschichtenerzählen selbst.

Bear Bavinsky, der erfolgreiche amerikanische Maler der Nachkriegszeit, ist ein strahlender Stern am Firmament des Kunstmarktes und ein charismatischer Künstlertyp par excellence. Sein Sohn Charles, genannt Pinch, wirkt dagegen blass und schüchtern, steht immer in der zweiten Reihe, womit er sich — mal mehr, mal weniger — abfindet. Pinch ist die eigentliche Hauptfigur dieses neuen Romans von Tom Rachman, der in der Künstler- und Kunstwelt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesiedelt ist.

Es ist faszinierend zu lesen, wie es Pinch gelingt, sich dem lebenslangen Einfluss seines allmächtigen Vaters mehr und mehr zu entziehen, um am Ende aus seinem Schatten zu treten. „Die Gesichter“ ist im wahrsten Sinne ein Entwicklungsroman, wobei man ihm auch gleich in mehrfacher Hinsicht das Prädikat „Künstlerroman“ verleihen könnte.

Tom Rachman hat im Laufe der Jahre einen ganz eigenen Stil entwickelt, mit dem es ihm gelingt, in seinen Texten die Beschreibung der Wirklichkeit dadurch zum Klingen zu bringen, dass er einen unglaublichen Detailreichtum an den Tag legt. Die eigentliche Kunst besteht darin, diese Details nicht auf einmal über den Leser auszuschütten, sondern sie nach und neu einzustreuen, so dass der Leser mit jeder Buchseite immer weiter in die fiktive Welt der Künstler-Bohème der Nachkriegsmoderne hineingezogen wird.

In seinem dritten Roman spannt Tom Rachman einen noch weiteren Bogen als in seinen vorherigen Büchern. Es geht im wahrsten Sinne um Leben und Tod, um die elementaren Fragen, wie man ein erfolgreiches Leben gestalten und wie man mit dem Tod umgehen kann, mit dem Tod nahe stehender Menschen und letzten Endes auch mit dem eigenen.

Es gibt verschiedene Arten, einen Roman zu lesen. Man kann versuchen, eine Geschichte von außen zu betrachten wie jemand, dem sie erzählt wird. Man kann aber auch versuchen, sich mit einer der Figuren zu identifizieren und auf diese Weise die Geschichte quasi „von innen“ zu lesen und als eine der beteiligten Charaktere mitzuerleben. Diese zweite Form der Lektüre ist eher die Regel als die erste, zumindest verhält es sich so bei einem guten Roman. Der Roman „Die Gesichter“ verdient zweifellos das Prädikat „sehr gut“, und er lädt gleich mehrfach zu einer solch identifikatorischen Lektüre ein.

Tom Rachman versteht es, die Welt, in der wir leben, in all ihrer Komplexität und Variabilität in eine Sprache zu fassen, die nicht tonnenschwer daherkommt, sondern leichtfüßig und fast wie im Vorübergleiten die kleinen und auch die großen Zusammenhänge verständlich macht. Während der Lektüre hat man stets das deutliche Gefühl, dass die Romanfiguren nicht erfunden, sondern Menschen aus Fleisch und Blut sind — oder zumindest solche lebendigen Vorbilder hatten.

„Die Gesichter“ von Tom Rachman ist eine 400 Seiten starke Kraftquelle, ein literarisches Lagerfeuer, an dem man sich wärmen kann, ein Entwicklungsroman im besten Sinne, der dem Leser neben all dem Lesespaß eine Fülle an Lebensweisheiten vermittelt, wenn man ihn denn richtig zu lesen vermag. — Ein spannendes und tolles Buch aus der bunten und schrägen Welt der modernen Kunst und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts!

 

 

 

Autor: Tom Rachman
Titel: „Die Gesichter“
Gebundene Ausgabe: 416 Seiten
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
ISBN-10: 3423289694
ISBN-13: 978-3423289696