„Der Matrose Martin Eden verliebt sich in die aus wohlhabendem Hause stammende Ruth. Um die gebildete junge Frau für sich zu gewinnen, wird er zum Autodidakten. Dabei entdeckt Martin seine Liebe zum Schreiben und beschließt, Schriftsteller zu werden. Aber für die Verwirklichung seines Traums muss er einen hohen Preis zahlen.“ — So steht es auf dem Klappentext der aktuellen Taschenbuchausgabe des Romans von Jack London, der jetzt von Lutz-W. Wolff neu übersetzt vorliegt.
Man kann die Geschichte des Martin Eden auf diese Weise zusammenfassen, aber natürlich ist dieses Herunterbrechen auf neun Zeilen Klappentext viel zu wenig und wird der Naturgewalt dieses Romans in keiner Weise gerecht. Jack London hat in diesem 1909 erschienenen Roman nicht nur sehr viel Autobiographisches eingearbeitet, sondern ein derart umfangreiches und tiefgehendes Werk geschaffen, das selbst mit den Etikettierungen „Bildungsroman“ oder „Entwicklungsroman“ nur unzureichend beschrieben ist.
Generationen von Rezensenten haben bereits zuvor auf die zahlreichen Parallelen zwischen dem Autor Jack London und seiner Romanfigur Martin Eden hingewiesen, so dass hier der Hinweis genügen möge, dass die Vermutung naheliegend war, im „Martin Eden“ keinen eigenständigen Künstlerroman, sondern einen autobiographischen Roman zu sehen, auch wenn der Autor dies stets bestritten hat.
In seinem sehr informativen Nachwort weist auch der Übersetzer auf die größten Parallelen hin: Jack London war (wie Martin Eden) ein Autodidakt, der „sich an Herbert Spencer orientierte; beiden haben sich der Literatur zugewendet, um Geld zu verdienen und gesellschaftliche Anerkennung zu finden; beide haben Hunger gelitten und große Opfer gebracht, um ihr Ziel zu erreichen; beide hatten im Alter von knapp 20 Jahren eine verlobungsähnliche Beziehung zu einer mehrere Jahre älteren „höheren Tochter‘, die in Berkeley studierte und an Tuberkulose litt; beide hatten einen hedonistischen Freund, mit dem sie Oakland und San Franzisco unsicher machten; beide sind schließlich als erfolgreiche Schriftsteller auf einem Dampfer namens ‚Mariposa‘ in die Südsee gefahren.“
Was den „Martin Eden“ so besonders macht, ist in diesem Zusammenhang nicht nur die Entwicklung, die die Hauptfigur durchläuft, sondern die Wahl der Erzählinstanz. Es ist der bewusste Verzicht des Autors auf eine auktoriale Erzählperspektive, die er ja leicht hätte einnehmen können, falls wir der Vermutung folgen, dass es sich vor allem um autobiographisches Material handelt. Vielmehr wählte Jack London die Perspektive eines personalen Erzählers. Charakteristisch für diese Form des Erzählens sind lange Passagen der „erlebten Rede“, in der die Innenwelt, die Gedanken und Selbstgespräche der Hauptfigur wiedergegeben werden.
Auf diese Weise nimmt der Leser ganz unmittelbar teil an der Entwicklung des ungeschliffenen Matrosen hin zum Schriftsteller. Dieser Entwicklungsprozess geht beileibe nicht reibungslos vor sich. Viele Widerstände stellen sich Martin Eden in den Weg, sowohl soziale und gesellschaftliche als auch ganz profan finanzielle. Aber er hat einen starken Charakter, lässt sich von nichts und niemandem aufhalten. Doch seine Willensstärke (um nicht zu sagen: sein Starrsinn) wird ihm im Laufe seiner Verwandlung immer wieder und immer mehr zum Verhängnis.
Was kann uns dieser Roman heute noch sagen, über hundert Jahre nach seinem Erscheinen? — Eine Menge. Denn es ist ein Buch über das Leben, ein Buch über das Schreiben, ein Buch über die Selbstfindung und -verwirklichung eines Mannes, der aus Liebe zu einer Frau die Schranken seiner Klasse durchbricht und sein Lebensziel unbeirrt verfolgt, bis zum Schluss.
Martin Eden stammt aus einfachsten Verhältnissen. Er ist Matrose, lebt, wenn er nicht gerade zur See fährt, in einer winzigen und dunklen Kammer im Hause seiner Schwester und ihres jähzornigen Mannes.
Durch einen Zufall — er hilft einem Mann aus gutem Hause, der in eine Schlägerei verwickelt wird — kommt Martin in Berührung mit der bürgerlichen Klasse. Zum Dank wird er in das Haus des Mannes eingeladen, lernt dort dessen Schwester Ruth kennen und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Doch die Klassenschranken sind hoch und eigentlich unüberwindbar.
Ruth und ihre Brüder gehen zur Universität, sie sind kluge Menschen, und Martin hat nicht einmal die Volksschule bis zum Ende besucht. Und trotzdem hatte er diesen feinen Leuten etwas Entscheidendes voraus: Lebenserfahrung. „Sie hatten das Leben in Büchern studiert, er hatte das Leben gelebt.“
In Martin Eden wächst der Wunsch, das Herz von Ruth zu gewinnen. Dies kann er nur erreichen, wenn er ihr und ihresgleichen ähnlicher wird. Er beschließt zu lernen und sich zu bilden. Er kann lesen, aber mit der Grammatik hapert es gewaltig. Er ist ein Kind seiner Klasse, und das hört man auch an seiner Sprache.
Er besucht die Bibliothek und leiht sich Bücher aus. Kreuz und quer durch alle Wissensgebiete, auch Romane und andere literarische Werke. Je mehr er liest, desto weniger begreift er zunächst. Doch er bleibt am Ball, liest und bildet sich weiter, entdeckt in diesem Zuge auch die Werke von Herbert Spencer, der seinerzeit sehr einflussreich war.
Er war „auf diesen Spencer gestoßen, der das gesamte Wissen für ihn geordnet, alles auf eine große Einheit zurückgeführt und letzte Wahrheiten ausgearbeitet hatte. Vor Martins staunendem Auge entstand ein Universum, das so konkret und wirklichkeitsgetreu wie eins der kleinen Schiffsmodelle wirkte, wie sie Matrosen zusammenbauen und in Glasflachen stecken.“
Der englische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer wandte Darwins Evolutionstheorie auf die gesellschaftliche Entwicklung an; er war davon überzeugt, dass sich der Mensch mithilfe der Bildung immer weiter entwickeln kann bis zur höchsten Stufe. Auch Jack London war von Spencers Schriften stark beeinflusst. Insofern ist „Martin Eden“ auch ein Roman, der den Gedanken des Evolutionismus von Spencer nachzuzeichnen versucht.
Martin Eden war durch die Entdeckung der Schriften Spencers „von einer Ebene des intellektuellen Lebens zur anderen aufgestiegen, und jetzt stand er höher als je zuvor. Alle verborgenen Dinge offenbarten ihm ihre Geheimnisse. Er war berauscht von Erkenntnis.“
Je mehr sich Martin Eden in die Bücher und das Selbststudium vertieft, desto schneller entfremdet er sich seiner Umgebung. Seine Leute haben es längst aufgegeben zu verstehen, was er da eigentlich macht und wovon er redet. „Bis jetzt hatte er das Dasein, so wie er und seine Umgebung es lebten, für etwas Gutes gehalten. Er hatte es nie infrage gestellt — nur wenn er Bücher gelesen hatte.“
„Die vielen Bücher, die er las, steigerten aber nur seine Unruhe. Jede Seite in jedem Buch war nur ein Guckloch in das Reich des Wissens. Sein Hunger ernährte sich von dem, was er las, und wuchs immer mehr.“
Schnell bemerkte sein Umfeld die Veränderungen. Er trat selbstbewusster auf, kleidete sich stilvoll, legte sich Manieren zu, verstand es zu reden. „Aber die Wandlung betraf nicht nur sein Äußeres, sie reichte tiefer.“ — „Mehrere Wochen vergingen, in denen Martin Eden seine Grammatik studierte, die Benimmbücher auswendig lernte und begierig alles las, was ihm in die Hände fiel. Aus seiner eigenen Klasse sah er niemanden. […] Und sein frisches, zwanzigjähriges Gehirn erfasste, angetrieben von einem reifen Verlangen, alles, was er las, mit einer männlichen Energie, die man nur selten bei Studenten findet.“
Er legte ein unglaubliches Tempo an den Tag, schlief nur drei oder vier Stunden pro Nacht, widmete sein Leben der eigenen Vervollkommnung, dem Selbststudium und — schon wenig später — der Verfolgung seines Lebenstraums: dem Schreiben.
„Sein Verstand war zum Lernen geschaffen, und hinter dieser Fähigkeit standen die Unbezähmbarkeit seiner Natur und seine Liebe zu Ruth.“ Sie begleitet ihn in seinen Träumen Tag und Nacht. Auch als er aus finanziellen Gründen wieder zur See fahren muss und die Schönheit der Südsee jetzt mit anderen Augen wahrnimmt, möchte er diese Schönheit mit Ruth teilen. Er beschließt, ihr zu schreiben und von seinen Erlebnissen zu erzählen!
„Aber sein Schöpfergeist erhitzte sich bei dem Gedanken und forderte, er solle diese Schönheit für ein noch größeres Publikum einfangen als nur für Ruth. Und dann erschien in Glanz und Glorie der große Gedanke: Er würde schreiben!“
So schnell wie sein Selbststudium, so schnell beginnt er mit dem Schreiben, und es sprudelt regelrecht aus ihm heraus: „Jeden Tag schaffte er dreitausend Wörter, und jeden Abend wühlte er sich durch die Zeitschriften und versuchte festzustellen, was für Geschichten, Artikel und Gedichte die Redakteure für druckenswert hielten.“
Er schickt seine Gedichte, später Artikel, Kurzgeschichten und Essays an Tageszeitungen und Zeitschriften. Er gibt sein letztes Geld für Briefmarken aus, und immer wieder kommen seine Geschichten unveröffentlicht zurück. Doch Martin Eden ist ein hartnäckiger Bursche, er gibt nicht auf. Das Schreiben wird für ihn der einzige Weg, um sich der Liebe von Ruth als würdig zu erweisen. Und das Schreiben wird ihm zur Passion.
Je mehr er lernt und an Wissen erlangt, desto mehr will er schreiben und sein Wissen teilen. Er liebt seine Reisen in die unendliche Welt der Gedanken, doch noch ist es vor allem seine liebe zu Ruth, die ihn antreibt. Doch „was ihn bedrückte, war ihre Unerreichbarkeit.“ Alle Rückschläge können ihn nicht stoppen, wie besessen verfolgt er sein Ziel, Schriftsteller zu werden, denn er ist von sich selbst und seinem Talent überzeugt. Die Liebe zu Ruth wird immer mehr von der Liebe zur Erkenntnis ersetzt.
Verbissen verfolgt Martin Eden sein Ziel. Mit der Zeit merkt er, dass er mit seinen „Meisterwerken“ kein Geld verdienen kann, also entwickelt er einen konkreten Plan: „Ich lasse die Meisterwerke in Ruhe und schreibe Unterhaltungsliteratur — Witze, Glossen, interessante Artikel, Gesellschaftsgedichte —, den ganzen Kram. […] Nach der Geldschreiberei werde ich weiter lernen und mich auf das Schreiben von Meisterwerken vorbereiten. […] Geldschreiberei und Verdienst kommt zuerst, die Meisterwerke danach.“
So konkret dieser Plan ist, so erfolglos bleibt lange Zeit Martin Edens Versuch, seinen Lebensunterhalt durch das Schreiben zu sichern und dadurch seine Liebe zu Ruth in eine gesellschaftlich akzeptierte Form zu gießen. Sein Starrsinn und seine Beharrlichkeit bringen ihn mehr als ein Mal bis an den Rand der physischen Existenz.
„Die Liebe hatte die Revolution bei ihm ausgelöst, die ihn vom ungehobelten Matrosen zum Lernenden und zum Künstler gemacht hatte, deshalb war von diesen dreien die Liebe das höchste — höher noch als das Lernen und das Künstlertum, […] Die Liebe existierte jenseits des rationalen Denkens, sie stand über der Vernunft.“
Die Misserfolge treiben ihn nur dazu, sich noch tiefer und genauer mit seinen Texten auseinanderzusetzen. Er liest auch exzessiv die Bücher erfolgreicher Autoren, „notierte sich, was sie erreicht hatten, und versuchte dahinterzukommen, mit welchen Tricks das Ergebnis erzielt worden war — Erzähltechnik, Exposition, Stil, Perspektive, Kontraste, Bonmots und so weiter.“
„Mit der glatten Oberfläche der Schönheit gab er sich nicht zufrieden. Er zerlegte sie in seinem überfüllten kleinen Schlafzimmerlaboratorium. […] Er war so beschaffen, dass er nur arbeiten konnte, wenn er die Dinge verstand.“ Am Ende bringt diese akribische Fleißarbeit eines hart an sich und seinen Texten arbeitenden Schriftstellers erste Erfolge.
Schließlich kommt er dort an, wo er von Anfang an hin wollte, in den Kreis der guten Gesellschaft, und stellt fest, dass er es mit diesen Menschen, mit ihrem oberflächlichen Smalltalk und ihrem offensichtlichen Hang zu Intrigen nur schwer aushalten kann: „Er schaute sich unter den wohlerzogenen, gut gekleideten Männern und Frauen um und sog die Atmosphäre von Kultur und feiner Lebensart tief in die Lungen, aber gleichzeitig stolzierte der Geist seiner Jugend mit steifem Hut und derber Jacke und aller Angeberei und Rüpelhaftigkeit durch den Raum.“
Martin Eden erkennt, dass er seit dem Augenblick, als Ruth das Feuer der Liebe in ihm entzündete, ein Getriebener war: „Immer hatte er eine Unruhe gespürt, immer hatte er von jenseits des Horizonts einen Ruf gehört und war ihm durchs Leben gefolgt, bis er bei den Büchern, der Kunst und der Liebe gelandet war.“ Jetzt war er also am Ziel und musste feststellen, dass es gar nicht das eigentliche Ziel war. Dies lag ganz woanders.
Martin Eden stammt aus der Arbeiterklasse. Als Autodidakt gelingt ihm der soziale Aufstieg in die bürgerlichen Kreise. Gleichwohl vergisst er nie, woher er kommt. Er kennt das Leben in beiden Welten, und so ist es geradezu selbstverständlich, dass er die soziale Ungleichheit stärker wahrnimmt als andere, dass er sie verurteilt und mit den fortschrittlichen politischen Bewegungen seiner Zeit in Berührung kommt.
Auch Jack London war seinerzeit von diesen Ideen nicht unberührt. Bevor er seinen „Martin Eden“ schrieb, erschien seine bekannte Sozialstudie „The People of the Abyss“ (1903) über das Leben in den Slums von London. So werden in „Martin Eden“ auch sozialistische Ideen diskutiert, und dem ganzen Roman ist eine latente Sozialkritik als Subtext unterlegt.
An Martin Edens Begeisterung für soziale Reformen zerbricht am Ende sogar seine Liebe zu Ruth. Er erkennt, dass sie nicht aus dem goldenen Käfig ihres bürgerlichen Wertesystems ausbrechen kann und zeitlebens eine „Tochter aus gutem Hause“ bleiben wird: „Aber so sehr sie ihn auch geliebt hatte, das bürgerliche Wertesystem hatte sie noch mehr geliebt.“
Damit ist Martin Edens Lebenstraum trotz seines später einsetzenden, überwältigenden Erfolgs als Schriftsteller letztlich gescheitert. In einer Schlüsselszene des Romans beharrt Martin Eden noch einmal trotzig darauf: „Alle Dinge auf dieser Welt können fehlgehen, aber die Liebe nicht.“ Doch es sollte anders kommen. Weil er das nicht akzeptieren kann, zieht Martin seine eigenen Konsequenzen: „Er war ins Dunkel gefallen. Und als er das wusste, hörte er auf zu wissen.“
Die Neuübersetzung von Lutz-W. Wolff ist stark und überzeugend. Er trifft von Anfang an den Sound des Originals und versteht es, den Leser mit seiner Sprache in den Sog der Geschichte zu ziehen. Was dann folgt, sind 486 Seiten einer spannenden Lebens- und Entwicklungsgeschichte: Ein Mann will nach oben, kommt oben an und fällt ins Nichts. — Jack Londons „Martin Eden“ war auch schon in früheren Übersetzungen lesenswert. Aber jetzt erst recht!
Autor: Jack London
Titel: „Martin Eden“
Taschenbuch: 528 Seiten
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
ISBN-10: 3423146540
ISBN-13: 978-3423146548