Hanno Rauterberg: „Wie frei ist die Kunst? – Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus“

Die Kunst im Würgegriff von Ikonoklast*innen lässt den Kunstkritiker Hanno Rauterberg die Frage nach ihrer Freiheit umso dringlicher stellen, je mehr sich die Beispiele eines Angriffs auf die Kunstfreiheit häufen.

Wir hatten uns zu sehr an die Freiheiten in einer demokratischen und offenen Gesellschaft gewöhnt und sie als selbstverständlich vorausgesetzt. Doch nun merken wir in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen, wie sehr der Liberalismus in der Krise steckt. Es sind jene egalitären Bewegungen, die im Zuge der Digitalmoderne nach neuen Mehrheiten suchen und sie im wütend klickenden Plebiszit gefunden zu haben scheinen.

Es sind jene digitalen Stürme, welche von den Sensiblen und Sensibilisierten ausgehen und nun auch der Kunst ihre Freiheit absprechen. Sie stürmen voran im Namen der Entrechteten, der Übergangenen und Stimmlosen, und sie haben den Stereotypen, dem Eklektizismus und den provokanten Elementen in der Kunst den (digitalen) Kampf angesagt.

Sie halten sich für die Guten und verweigern jede Anerkennung von Historizität und Kontextualität; sie schießen weit über jedes Ziel hinaus und zerstören die Grundlagen jeder freien Kunstausübung; sie führen sich auf wie Kämpfer für eine gerechte Sache und kritteln an Kunstwerken herum, deren Grenzüberschreitungen sie einfach nicht ertragen wollen; sie nehmen die Kunst eines kritisierten Künstlers in Sippenhaft und fühlen sich schnell beleidigt, wenn ein Kunstwerk nicht ihren moralischen Vorstellungen entspricht.

Die Vorfälle der vergangenen Jahre haben gezeigt, wie sehr auch die Kunst ins Visier von Bilderstürmer*innen geraten ist, die im Namen der Gleichstellung und der Gerechtigkeit die Freiheit der Kunst infrage stellen. Bilder sollen abgehängt, verhüllt oder gar zerstört werden, weil sie vermeintlich mit dem ethischen Empfinden unserer Zeit unvereinbar sind oder gegen die aktuellen „Guidelines“ einer neutralen Darstellung in Bezug auf Geschlecht, Sexualität, Ethnie oder Religion verstoßen würden.

Hierbei spielt es offenbar keine Rolle, vor wie vielen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten ein Kunstwerk geschaffen worden ist, solange es den zeitgenössischen Kunstgeschmack beleidigt. Wer älter als 30 Jahre ist, sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass die Jüngeren heutzutage anscheinend so verletzlich sind, dass man sie vor allzu verstörenden Kunsteindrücken schützen muss.

Ähnlich zeigt sich diese Verletzlichkeit an Universitäten, in Publikationen und Filmen, wenn sogenannte Trigger-Warnungen ausgegeben werden, dass der folgende Inhalt auf manche Personenkreise irritierend wirken könne. Gleichzeitig ist jene Generation schnell beleidigt und neigt zu einer kollektiven Empörung, welche durch die sogenannten sozialen Medien leicht zu einem Sturm des Zornes der digitalen Massen anschwellen kann.

Wie schnell ist ein Kunstwerk ausfindig gemacht, das stereotype Geschlechterrollen reproduziert (und damit „verherrlicht“?), das die Darstellung von nackten Frauen dazu missbraucht, sie auf Sexualobjekte einer männlich dominierten Rezeption zu reduzieren, das sich der Bildelemente fremder Ethnien und Kulturen bedient und diese auf jene Weise ausbeutet usw.

Die Schlagworte lauten „Cultural Appropriation“ (kulturelle Aneignung), die Hashtags #MeToo (sexuelle Belästigung) oder #MeTwo (Rassismus). Seit einiger Zeit wird versucht, die gesellschaftliche und politische Kampfzone auf die Kunst auszuweiten. Natürlich ist Kunst als Teil unserer Kultur auch immer gesellschaftlich relevant (sollte es zumindest sein), und natürlich ist Kunst auch meist politisch. Gleichwohl haben sich die demokratischen und liberalen Gesellschaften darauf geeinigt, dass es auch eine Freiheit der Kunst gibt.

Doch genau mit dieser Freiheit haben viele Menschen offenbar immer häufiger ein echtes Problem. Es ist vor allem jene Generation, welche in der Digitalmoderne großgeworden ist, die sich jetzt aufschwingt, die Freiheit der Kunst infrage zu stellen. Wir leben in Zeiten einer digitalen Empörungskultur, die schnell verurteilt und mobbt; umso langfristiger ist der Schaden, welcher einzelnen Künstlern oder Kunstwerken (und damit auch der Kunst insgesamt!) zugefügt wird.

Dana Schutz, Chuck Close, Balthus, Erwin Gomringer, Charlie Hebdo: Fünf Namen, die stellvertretend stehen für fünf Variationen einer Beschneidung der Kunst. Es sind archetypische Beispiele für die hysterische Erregungspolitik, welche sich mittlerweile dank der digitalen Medien zu einer weltweiten Hexenjagd ausgeweitet hat.

Der Lauf der Dinge ist oft ähnlich: Einem Künstler wird (meist sexuelles) Fehlverhalten vorgeworfen oder ein Kunstwerk erweist sich bei näherer Betrachtung (aus verschiedenen Gründen) als anstößig. Daraufhin werden die Künstler öffentlich angeprangert, verbunden mit der Forderung, sie gesellschaftlich zu ächten: Ihre Kunstwerke sollen entwertet, am besten abgehängt (oder auch zerstört) werden und in den Depots verschwinden.

Schauspieler sollen aus Filmen herausgeschnitten werden. Oder der Film wird nicht mehr fertiggestellt. Ein Bild wird entfernt oder ein Gedicht übermalt. Preise zurückgegeben oder verweigert. Sobald sich irgend jemand durch ein Kunstwerk in seinem Empfinden, in seiner Ehre oder in seiner sozialen / biologischen / sexuellen / Gender- / Identität verletzt fühlt, wird der Wert des Kunstwerks zur Disposition gestellt.

Es ginge ja auch anders: Das betreffende Kunstwerk könnte ja auch reflektiert und in seiner angeblichen Problematik diskutiert werden, aber viele haben dazu heute anscheinend keine Lust mehr oder können (oder wollen) nicht ertragen, dass ein Kunstwerk nicht ihren Erwartungen entspricht. Viel einfacher ist es da, die digitalen Massen zu einer Art von künstlerischem Volksgerichtshof zu mobilisieren.

In seinem klugen und wie immer ausgezeichnet recherchierten Essay scheut sich Hanno Rauterberg nicht, Ross und Reiter zu benennen. Das Buch liest sich über weite Strecken wie eine Klage, aber eben auch wie eine Anklage. Geboren 1967, gehört Rauterberg wie der Rezensent einer Generation an, die noch den fruchtbaren Austausch und die produktive Kraft einer aktiven Auseinandersetzung mit Kunstwerken kannte. Vor nicht gar so langer Zeit war es üblich, dass man künstlerische Grenzüberschreitungen nicht nur ertrug, sondern sogar erwartete, ja voraussetzte!

Die Kunst hat seit jenen Zeiten einen Wertewandel durchlebt, und nicht selten wird der Wert eines Kunstwerks heute nicht mehr nach seiner Wirkung auf den Betrachter, sondern nach seinem Kaufpreis errechnet. Mit dieser Entwicklung einher ging eine Tendenz zur Selbstauflösung der ethischen Verantwortung, die ein Künstler früher in seiner Kunst zum Ausdruck bringen wollte. Aus autonomer Kunst wurde immer mehr Dekoration und Auftragskunst. Im Zuge dieses Niedergangs hat die Kunst ihre eigentliche Aussagekraft eingebüßt und wurde zum Spielball gesellschaftspolitischer Interessenkonflikte.

An diesem Punkt stehen wir heute. Die Kunst ist wohlfeil geworden, der Künstler nicht mehr autonom und unabhängig von gesellschaftlichen und moralischen Regeln, sondern ihnen genauso unterworfen wie jeder andere Mensch. Der Künstler hat seinen Genie-Status eingebüßt und steht nicht mehr an seiner früheren „außer-ordentlichen“ Position in der Gesellschaft, sondern wurde von den neuen Kunst-Aufsehern und Zensoren zurückgepfiffen.

Dass es nicht immer nur gegen die Männer geht, zeigt der Fall der Künstlerin Dana Schutz, welche für die Verwendung afroamerikanischer Sujets offen angefeindet wurde. Es geht letztlich gegen alle Kunst und Künstler, die den moralischen Vorstellungen der egalitären Fundamentalisten nicht entsprechen — oder, wie es auch gerne heißt: deren Werke und Verhaltensweisen dem „gesunden Menschenverstand“ widersprechen.

Wir leben in Zeiten eines neuen Sensibilismus. Die Empörungskultur der Digitalmoderne vereint sich in ihrem bilderstürmenden Kampf gegen die soziale Ungleichheit und erkennt in der Freiheit der Kunst eine neue Bedrohung für die Gleichbehandlung aller Menschen. Dass man dabei das Kind mit dem Bade ausschüttet und sich auch an Kunstwerken aus vergangenen Jahrhunderten vergreift, ist den Empörten egal, denn sie haben ja die Gerechtigkeit auf ihrer Seite. —

Ob wir aus diesem Teufelskreis herauskommen und diese Krise des Liberalismus überwinden können, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Falls es nicht gelingt, zu einer offenen und vorurteilslosen Wahrnehmung und Diskussion von Kunst zurückzukehren, werden wir immer tiefer in ein Klima der Angst eintauchen, das nicht nur das Ende der Kunstfreiheit, sondern letztlich auch der Freiheit von uns allen bedeuten würde.

 

 

Autor: Hanno Rauterberg
Titel: „Wie frei ist die Kunst? – Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus“
Taschenbuch: 141 Seiten
Verlag: Suhrkamp Verlag
ISBN-10: 351812725X
ISBN-13: 978-3518127254