Gerdien Jonker: „Etwas hoffen muss das Herz — Eine Familiengeschichte von Juden, Christen und Muslimen“

„Dieses Buch handelt von der Geschichte einer preußisch-jüdischen Familie mit einem ausgeprägten Sinn für Reformen.“ Aus der westpreußischen Heimat wandern die Oettingers über Berlin bis nach London. Die letzte Etappe nach Britisch-Indien sollte wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gelingen. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Nachkriegszeit reicht diese bemerkenswerte Familiengeschichte. Es ist vor allem eine Geschichte des Verhältnisses von Juden und Muslimen vor dem Hintergrund der Reformbewegungen.

„In der Geschichte der Familie Oettinger wechseln vier aufeinanderfolgende Generationen ihre Religion.“ Wäre diese Familiengeschichte die Grundlage für einen Roman, so müsste sich der Autor die Frage gefallen lassen, ob er die interkonfessionelle Mobilität seiner Figuren nicht ein wenig überstrapaziert. Doch alle hier geschilderten Begebenheiten sind wahr und keine Fiktion!

Die Reformbewegungen ab 1900 und vor allem später in den 1920er Jahren werden zum zentralen Bezugspunkt dieser Familiengeschichte. Es sind vor allem die Frauen, die sich diesen neuen Ideen öffnen. „In der Zwischenkriegszeit waren viele Europäer unterwegs, um sich von ihrer Herkunftsreligion zu befreien. Missionare aus aller Welt — Buddhisten, Hindus, Bahai und eben auch Muslime — gründeten in Europa Missionsstationen, die als Vertreter ‚östlicher Weisheit‘ das gebildete Publikum wie ein Magnet anzogen.“ Unter diesen Missionaren war auch die Ahmadiyya-Reformbewegung aus Nordindien, die um 1900 die deutsche Lebensreform-Bewegung explizit für ihre Zwecke nutzte.

Während der 1930er Jahre wurden viele Reformbewegungen, die sich in der Weimarer Republik in einem liberalen Milieu entfalten konnten, von den Nationalsozialisten vereinnahmt und für ihre Zwecke instrumentalisiert. Es ist spannend und dramatisch zugleich zu lesen, wie die Oettingers mit dieser Herausforderung umgegangen sind und welche persönlichen Konsequenzen sich aus ihrer Herkunft und ihrer konfessionellen Ausrichtung ergaben.

Auch wenn sich dieses buch über weite Strecken fast wie ein Roman liest, basiert alles auf Fakten, welche die Autorin aus den verschiedenen Quellen zusammengetragen hat. „Familienerinnerungen und Geschichtsschreibung bieten zwei eigene Zugänge zur Vergangenheit.“ Die Autorin versteht es meisterlich, diese beiden Erzählstränge miteinander zu verknüpfen und die Familiengeschichte innerhalb dieses Spannungsverhältnisses zu entwickeln.

„Die Quellenlage, aus der diese Familiengeschichte schöpft, hat eine große Spannbreite.“ Neben den persönlichen Dokumenten aus dem familiären Nachlass werden Auszüge aus Standesamtsregistern, Dokumentationen zur jüdischen Gemeinde in Westpreußen, Fotos und Adressbücher herangezogen; selbst Foto- und Poesiealben oder Dokumente aus den Stadtarchiven der jeweiligen Orte, an denen die Oettingers gelebt haben, fanden Eingang in die Quellenarbeit. „Text- und Fotodokumente, Gegenstände, Gedichte, Kochrezepte und Erinnerungen vieler verschiedener Akteure — die Fülle des Materials erlaubte trotzdem nicht, die Landkarte zwischen Juden und Muslimen vollständig nachzuzeichnen.“

Gleichwohl erzählt die Religionshistorikerin Gerdien Jonker anhand des reichen Nachlasses der Familie Oettinger die abwechslungsreiche und bewegte Geschichte dieser Familie. Zwischen deutsch-jüdischer Assimilation, Reformbewegung, Kosmopolitismus und Islam, vom Kaiserreich über die Weimarer Zeit und dem Nationalsozialismus bis zu einem Neuanfang im Nachkriegs-England spannt sich der historische Bogen dieser bewegenden Familiengeschichte.

Die Autorin zeichnet die Lebenswege der einzelnen Familienmitglieder akribisch nach und reichert ihre Beschreibungen mit zahlreichen historischen Fakten an und gibt dem Leser zum besseren Verständnis auch immer wieder zeitgeschichtliche Kontextualisierungen an die Hand.

So entsteht ein sehr komplexes Bild einer kosmopolitischen preußisch-deutsch-englischen Familie sowie eine interessante Beschreibung der Geschichte der deutschen Lebensreform, „die es einst vermocht hatte, preußische Juden in kosmopolitische Muslime zu verwandeln, um sie dann in den Sog einer Begeisterung zu führen, die in der deutsch-indischen Synthese eine großartige Zukunft sah.“ Diesen letzten Schritt vollzog die Tochter Susanna, die als deutsch-jüdische Muslima Anfang der 1930er Jahre mit einem Inder ein uneheliches Kind zeugte: Christine Anisah Rani.

Gerdien Jonker versteht es, scheinbar stumme Dokumente zum Sprechen zu bringen. Neben intensiven Recherchen und Gesprächen mit Zeitzeugen greift die Autorin auch auf die Erinnerungen der noch lebenden Familienmitglieder zurück, die heute in England überwiegend Teil der muslimischen Community sind.

„Für das Verstehen dieser Familiengeschichte war es unabdingbar, mit den Nachkommen ständig Kontakt zu halten.“ So wurden Suhail Ahmad, Lisas Sohn, und Christine Anisah Rani, Susannas Tochter, zu permanenten Gesprächspartnern und lieferten die entscheidenden Anregungen für dieses Projekt.

So entsteht ein bislang unbekanntes und gleichsam faszinierendes Mosaik der europäischen Religionsgeschichte. Selten hat man den starken Einfluss des religiösen Glaubens auf die persönliche Lebensführung so deutlich vor Augen wie in dieser Familiengeschichte. Wenn der Glaube zu einem wichtigen, ja beherrschenden Teil des eigenen Lebens wird — sei es als dessen Fundament oder sei es als dessen moralisches Navigationssystem —, dann verläuft das eigene Leben anders, als wenn es diese Kraftquelle entbehren muss. Gleichwohl lässt sich der Glaube niemals erzwingen; man muss schon daran glauben, sonst funktioniert es nicht.

Gedien Jonker schreibt: „Mein Ziel war es, die Familiengeschichte für die europäische Religionsgeschichte fruchtbar zu machen, und ich setzte dafür, neben historischer Quellenforschung, auch Methoden der Ethnografie ein. Nur so konnten Erinnerungspartikel, die nicht die meinen waren, eingefangen werden, um sie anschließend in einem historischen Kontext zu verorten.“ — Dies ist ihr bestens gelungen, und nicht nur das: Dieses Buch erschließt dem Leser eine Welt, die bislang nahezu unbekannt war, eine neue und faszinierende Facette deutscher (Religions-)Geschichte. Gerdien Jonker hat einen Schatz entdeckt und ihn für uns gehoben!

 

 

Autor: Gerdien Jonker
Titel: „Etwas hoffen muss das Herz — Eine Familiengeschichte von Juden, Christen und Muslimen“
Gebundene Ausgabe: 272 Seiten
Verlag: Wallstein
ISBN-10: 3835331973
ISBN-13: 978-3835331976