Es gibt Geschichten, die berühren das Herz des Lesers, weil sie sich, anders als andere Geschichten, vorbei an allen Wegmarkierungen und sich allen kategorialen Einordnungen widersetzend, einen Weg bahnen durch die gängigen Abwehrmechanismen einer routinemäßigen Lektüre.
Ein solcher Ausbruch aus den Routinen gelingt einer Geschichte, die unsere Neugier weckt, weil sie ungewöhnlich ist und den Leser mit unbekannten historischen Zusammenhängen oder neuen Perspektiven in Berührung bringt, die ihm bislang verschlossen geblieben sind.
Die Autorin erzählt die Geschichte ihrer eigenen Familie über mehrere Generationen, wobei sie am Ende des Romans anmerkt, dass diese Geschichte zwar auf wahren Begebnissen beruht, jedoch nicht als eine „strenge Wiedergabe realer Personen, Orte, Zeitabläufe oder Ereignisse“ verstanden werden will.
Gleichwohl handelt es sich in weiten Teilen um die wahre Geschichte ihrer Großmutter Genofeva (Eva), die auch die Hauptperson des Romans ist. Die Autorin selbst ist die Tochter des aus Wien stammenden Karl Arnautović (1924–2000), der 1934 zusammen mit seinem Halbbruder Slavoljub vom kommunistischen Schutzbund auf die Krim verschickt worden war. Nach dem Bruch des Hitler-Stalin-Paktes und mit dem Beginn der stalinistischen Säuberungen erging es den beiden Söhnen von Genofeva wie seinerzeit vielen anderen Deutschen in der Sowjetunion: Karl wurde 1943 wegen angeblicher antisowjetischer Agitation zu zehnjähriger Lagerhaft verurteilt, und ihr Onkel Slavoljub verstarb schon 1942 in sowjetischer Haft.
Ljuba Arnautović wurde selbst noch in jenem sowjetischen Arbeitslager geboren, in dem ihr Vater seine Haft verbüßte; ihre Mutter war Russin. Nach seiner Entlassung aus dem Lager kehrte Karl Arnautović 1954 mit Frau und Tochter nach Österreich zurück. Wenig später ging ihre Mutter mit Ljuba wieder in die Sowjetunion zurück, zog dann aber 1960 endgültig nach Wien.
Erzählt wird die Geschichte dieser Familie aus der neutralreflektorischen Perspektive einer auktorialen Erzählerin, die bis kurz vor dem Ende des Romans nicht Teil der Handlung ist. Dann jedoch trifft die Enkelin Ende der 1960er Jahre auf ihre alte Großmutter (Eva), die sie kaum versteht, weil sie selbst in der Sowjetunion aufgewachsen ist und außer ein paar Brocken Deutsch nur Russisch spricht.
Die Erzählweise des Romans ist anachronisch; es wird kapitelweise zwischen den Jahrzehnten hin und her gewechselt, wobei dem Leser die Orientierung leicht gemacht wird, weil in den meisten Fällen bereits im ersten Absatz die Jahreszahl genannt wird.
Die Autorin schreibt aus einer distanzierten Erzählperspektive und gibt auf diese Weise den einzelnen Figuren die nötige Bewegungsfreiheit, um die Geschichte selbst voran zu bringen. Was bei der Lektüre dieses Romans nicht zuletzt fasziniert, ist die historische und geopolitische Konstellation, in der diese Familiengeschichte angesiedelt ist: Es ist das jüdische Wien des frühen 20. Jahrhunderts, die letzten Jahre der k.u.k.-Monarchie und ihr Untergang am Ende des Ersten Weltkriegs, dann die Zeit der Ersten Republik, der Machtkämpfe zwischen Links und rechts, ab 1934 der Austrofaschismus, 1938 der „Anschluss“ an das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg, schließlich die Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre. Doch nicht nur Wien, sondern auch Böhmen und Mähren, Jugoslawien, die Sowjetunion, England, Amerika und selbst Australien spielen unterschiedliche Rollen in dieser einzigartigen Familiengeschichte und zeigen, wie sehr manchmal (und vor allem im 20. Jahrhundert) Familien- und Weltgeschichte ineinandergreifen konnten.
Im Verborgenen erzählt aber nicht nur eine Familiengeschichte, sondern auch (gleich mehrere) Fluchtgeschichten. Jüdische Mitbürger und Kampfgenossen werden zu „U-Booten“; sie tauchen unter, werden von Eva und ihren Helfern versteckt vor dem Zugriff der Behörden und so vor dem sicheren Tod in den Vernichtungslagern der Nazis gerettet.
Auf diese Weise wird der Leser noch fester an das Buch gebunden; die sich oft überlappenden und miteinander verwobenen Erzählstränge formen sich zu einem dichten Netz, aus dem der Leser erst am Ende der Lektüre entkommen kann. Zuvor bleibt er von der Lektüre „gefesselt“ und wird diesen Roman nicht mehr aus der Hand legen, bevor er am Ende erfahren hat, welchem Schicksal die vielen Figuren des Romans begegnen.
Es ist das Romandebüt von Ljuba Arnautović und es offenbart nicht nur all ihre Lebenserfahrung und das große Einfühlungsvermögen einer jungen Autorin von Mitte sechzig; es zeigt vor allem ein großes Talent für die Beschreibung intrapersonaler Prozesse sowie eine hohe Stilsicherheit. Dies gekoppelt mit der Fähigkeit, packende Dialoge zu schreiben, führt zu jenem Ergebnis eines spannenden Zeit-Romans, der uns mit Im Verborgenen vorliegt und von dem man hoffen darf, dass es nicht der letzte Roman dieser Autorin ist.
Autor: Ljuba Arnautović
Titel: „Im Verborgenen“
Gebundene Ausgabe: 200 Seiten
Verlag: Picus Verlag
ISBN-10: 3711720595
ISBN-13: 978-3711720597
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