Barbara Ehrenreich: „Wollen wir ewig leben? — Die Wellness-Epidemie, die Gewissheit des Todes und unsere Illusion von Kontrolle“

Wie sähe ein ewiges Leben aus? Wäre es überhaupt wünschenswert? Selbst wenn es medizinisch machbar wäre? Woher nähmen wir dann unseren Antrieb? Welchen Sinn hätte überhaupt solch ein ewiges Leben?

Die amerikanische Biologin, „Wissenschaftsfreak“ und „Amateursoziologin“ (als die sie sich selbst bezeichnet) Barbara Ehrenreich hat ein interessantes Buch über die Wellness-Epidemie und den Gesundheitswahnsinn unserer Zeit geschrieben. Darin geht es implizit auch um die Frage nach dem richtigen Umgang mit der Tatsache der eigenen Sterblichkeit. Richtig kann dieser Umgang immer nur individuell sein; jeder muss seine eigene Antwort auf diese Frage finden.

Barbara Ehrenreich hat sich in unserer Gegenwart umgeschaut und konstatiert eine geradezu epidemische Ausbreitung von Wellness- und Fitness-Ideologien. Spätestens seit den 1970er Jahren, seitdem Jane Fonda die Aerobic-Welle in den USA lostrat, sind wir mehr oder weniger auf dem „Fitness-Trip“. In Zeiten der digitalen Selbstvermessung nimmt diese einseitige Fixierung auf die Optimierung der eigenen Fitness immer pathologischere Formen an.

Körperliche Gesundheit und geistige Fitness sind zum Standard, ja zum Zwang geworden, dem sich alle unterwerfen (müssen): weil es angesagt ist; weil alles Andere uncool ist; weil wir uns den perfiden Regeln der digitalen Apps und der Smart Data unterworfen haben und in einem permanenten Wettbewerb gefangen sind, in dem jeder gegen jeden antritt, um die eigene Identität als die schönere, bessere, gesündere zu präsentieren.

Die Autorin wurde 1941 geboren und ist somit, was die digitale Welt da draußen betrifft, jenseits von Gut und Böse. In ihrem Fall ist das von Vorteil, denn der distanzierte Blick auf den digitalen Wahnsinn macht es leichter, das allgemeine Gefühl der Selbstkontrolle als die Illusion jener User zu entlarven, die sich den aktuellen Fitness-Trends unterwerfen.

Fast schlimmer noch als dieses vergebliche Ankämpfen gegen die natürlichen Alterungsprozesse des Körpers ist das blinde Vertrauen, welches in ärztliche Vorsorge- und Therapie-Programme gelegt wird. Studien beweisen immer wieder und immer öfter, dass Ärzte alles Andere als zuverlässige Helfer in der Not sind. Nicht selten suchen Menschen die Arztpraxen auf, um sich durch gängigen Vorsorgeuntersuchungen in Patienten verwandeln zu lassen. Auch diesen Wahnsinn kritisiert die Autorin, die ihre eigenen (negativen) Erfahrungen mit dem amerikanischen Gesundheitssystem gemacht hat.

Doch in Europa und in Deutschland sieht die Sache keineswegs besser aus. Auch hier werden jeden Tag Therapien und Medikamente verschrieben oder Operationen durchgeführt, die keiner rationalen Hinterfragung standhalten würden; doch es fragt kaum einer, denn die Götter in Weiß verfügen immer noch über ein sehr hohes Vertrauenspotenzial.

Warum machen wir uns eigentlich so verrückt? Und vor allem: Für wen machen wir das alles? — Für uns selbst? Wohl kaum. Nur in den seltensten Fällen ist die Liebe zum eigenen Körper so groß, dass man sich freiwillig zahllosen Torturen unterwirft: Kontrolle der Ernährung, Fitness-Studio, Ausdauer-Training, um nur ein paar Bausteine zu nennen. Für die meisten geht es um das Bild, welches sie bei den Anderen erzeugen: Es geht um Selbst-Optimierung im Zeichen des Wettbewerbs der Individualisierungen.

Die Generation Selfie will sich ins rechte Bild rücken; will sagen: Hier bin ich! Schaut, wie schön und gesund ich bin! Ich führe ein aktives und glückliches Leben! — Was jedoch niemals ins Bild rückt, ist der eigene Tod und die Angst davor. Eine Angst, die alle teilen, besonders dann, wenn sie jeden Gedanken an die eigene Sterblichkeit verdrängen, ihn im Keim zu ersticken versuchen oder einfach durch Hyperaktivität vor ihm wegrennen.

Der Ausstieg aus diesem Hamsterrad gelingt leichter, wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hat. Wird man älter, so beginnt man irgendwann, das eigene Leben nicht immer nur nach vorne, sondern auch mal von seinem Ende her zu betrachten: Wie viel Zeit habe ich noch? Was habe ich erreicht und was will ich mit dem Rest meines Lebens anfangen? Wie will ich es verbringen? —

Solche Fragen sind sehr heilsam, wenn es um die Relevanz und die richtige Einordnung solcher Dinge wie Fitness und Gesundheit geht. Natürlich wollen wir alle möglichst lange fit und gesund bleiben. Aber haben wir wirklich Lust, uns für den Rest unseres Lebens unter das Joch der digitalen Selbstvermessung zu begeben und uns mit anderen zu vergleichen? Wollen wir uns wirklich medizinische Eingriffe antun, deren Sinnhaftigkeit auch von Ärzten nicht immer bestätigt wird?

Barbara Ehrenreich hat sich für ihr interessantes Buch viel Zeit genommen und einmal genauer hingeschaut. Gerade der Abschnitt über die medizinischen Studien und neuen Erkenntnisse über den Sinn und Nutzen von präventiv-medizinischen Maßnahmen sind aufschlussreich. Ihre Reise in die Welt der Molekularbiologie zeigt, wie „offen“ das Zellsystem des Menschen ist, entweder zu seinem Wohl oder zum Schlechten zu „handeln“.

Mit dem Stichwort Embodiment sind wir ganz nahe an den jüngsten Erkenntnissen der medizinischen Forschung. Je mehr Erkenntnisse man gewinnt, desto klarer wird, dass Körper und geist sich gegenseitig beeinflussen. Je weiter man forscht, desto deutlicher wird auch, wie viel wir noch nicht wissen — und dass sich die Medizinforschung in einem ähnlichen Dilemma befindet wie die Astronomie: Immer bessere Technologien und Werkzeuge führen zu neuen und verblüffenden Erkenntnissen, die altes Wissen über den Haufen werfen und zeigen, wie sehr wir noch am Anfang stehen.

Daher ist es auch folgerichtig, dass die Autorin am Ende ihres Buches einen weiten Bogen schlägt und von der Molekularbiologie über das Universum wieder zurück zu den kleinsten Einheiten kommt. Hierbei vertritt sie immer wieder das Bild eine bewegten und belebten Universums, ein Bild, das sich im Gegensatz zum statischen Bild einer toten Materie immer mehr durchsetzt, je intensiver die Forschung voranschreitet.

Wenn wir aber in einem belebten und energetischen Universum leben, von dem wir als menschliche Wesen ein Teil sind, dann wird der Blick holistisch und alles gehört irgendwie miteinander zusammen. Aus einer solchen Perspektive ist aber auch der eigene Tod nur noch ein Aufgehen in dem Ganzen und nichts weiter als eine Transformation von Energien. — Wozu sollten wir dann noch so sehr an unserem Körper hängen?

Folgerichtig trägt auch das letzte Kapitel die Überschrift: „Das Ich töten, eine lebendige Welt genießen“. Barbara Ehrenreichs Buch ist eine leicht lesbare Reise durch die Biologie und Molekularbiologie des Menschen, eine kritische Bestandsaufnahme des Fitness- und Kontroll-Wahns unserer digitalen Zeit und vor allem ein Buch, das zum Nachdenken anregt über das eigene Leben und unseren Umgang mit der Einheit von Körper, Seele und Geist.

Ein Buch, das Mut macht, auch mal gegen den Strom zu schwimmen und nicht länger den aktuellen Fitness-Trends hinterherzulaufen, sondern ein selbstbestimmtes Leben fernab aller Kontrollinstanzen zu führen und diese aufregende Welt in all ihren Facetten zu entdecken und zu genießen.

 

 

Autor: Barbara Ehrenreich
Titel: „Wollen wir ewig leben? — Die Wellness-Epidemie, die Gewissheit des Todes und unsere Illusion von Kontrolle“
Gebundene Ausgabe: 240 Seiten
Verlag: Verlag Antje Kunstmann
ISBN-10: 3956142349
ISBN-13: 978-3956142345