In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war die deutsche Sprache auf Expansionskurs. In den neuerworbenen Kolonien in Afrika, im Pazifik und in China wurde Deutsch gesprochen und in Schulen gelehrt.
„In den Kolonien in Afrika, China und im Südwestpazifik redeten Soldaten, Priester, beamte und Kolonisten Deutsch und brachten so auch Einheimische dazu, sich immer häufiger Grundkenntnisse der Sprache des Tausende von Kilometern entfernten Landes anzueignen. Kurz vor Ausbruch des Krieges wurde die Ausbreitung des Deutschen auch durch eine systematische Schulpolitik gefördert.“
Aber auch in den Wissenschaften, in Forschung und Lehre wurde die deutsche Sprache dank der Menge an wissenschaftlichen Entdeckungen und industriellen Entwicklungen zumindest vorübergehend zu einer weltweit gebräuchlichen Wissenschaftssprache: „Die Erfolge deutscher Wissenschaftler und der Glanz deutscher Kultur trugen ihres dazu bei, das globale Prestige der Sprache zu stärken“. Schließlich war und ist Deutsch eine klare und präzise Sprache mit festen regeln, die sich dank ihrer Genauigkeit hervorragend für die Abfassung von wissenschaftlichen und technischen Texten eignet.
Dann kam der Erste Weltkrieg und mit ihm der rasche Niedergang des Ansehens der Deutschen und ihrer Sprache. „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ war noch der Leitspruch (und das deutsche Wunschbild) der Kaiserzeit; nun aber war Deutsch die Sprache der Kriegstreiber, der Aggressoren; sie wurde verboten, verlernt, vergessen.
Matthias Heine hat in Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland den (erfolgreichen) Versuch unternommen, „hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs alle seine Folgen für das Deutsche zu skizzieren“. Das kleine und handliche Büchlein ist bei Hoffmann & Campe erschienen, hat 224 Seiten und macht einfach Spaß. Selten ist so spannend und anregend über Sprache geschrieben worden — schon gar nicht auf deutsch!
Der Autor ist seit 2010 Feuilletonredakteur der Tageszeitung Welt und hat ein sichtliches Faible für Sprache. Seine bekannte und beliebte Kolumne „Ein Mann, ein Wort“ legt von dieser Sprachenliebe ein beredtes Zeugnis ab. 2016 erschien bei Hoffmann & Campe das Buch Seit wann hat „geil“ nichts mehr mit Sex zu tun?: 100 deutsche Wörter und ihre erstaunlichen Karrieren.
In 14 Kapiteln beleuchtet der Autor verschiedene Aspekte und Stränge der deutschen Sprachentwicklung seit dem Ersten Weltkrieg. Der durch den Kriegseintritt ausgelöste kulturelle Bruch ist evident. Der anschaulich und leicht verständlich geschriebene Text legt die einzelnen Kapitel wie halbtransparente Folien übereinander und macht dieses Buch zu einer faszinierenden Reise durch die deutsche Sprachgeschichte.
Bei der Lektüre wird sehr schnell deutlich, wie sehr der Erste Weltkrieg zum Wendepunkt und zum Beginn eines universalen Abstiegs der deutschen Sprache von einem der vordersten und bedeutungsvollsten Plätze ins Mittelfeld wurde. Matthias Heines Buch bietet eine anregende und lehrreiche Lektüre und macht uns mit Facetten unserer Sprache vertraut, die bislang eher selten Eingang in die Literatur fanden: ein sehr schönes, schlaues und unterhaltsames Buch!
Autor: Matthias Heine
Titel: „Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland — Wie der Erste Weltkrieg die deutsche Sprache für immer veränderte“
Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
Verlag: HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH
ISBN-10: 3455002811
ISBN-13: 978-3455002812