Es gibt sehr viele Publikationen, die die Geschichte der Fotografie erzählen. Die meisten Bücher orientieren sich an der technischen Entwicklung der Fotografie von ihren Anfängen bis zur Digitalisierung; oder sie erzählen die Fotografie-Geschichte anhand von berühmten Fotografen oder Fotografien.
Warum also sollte man der hier vorliegenden Kleinen Geschichte der Fotografie von Boris von Brauchitsch den Vorzug geben? — Die Antwort ist einfach: weil sie besser ist als die anderen Bücher.
In diesem Buch wird ein anderer Ansatz verfolgt als in den meisten vergleichbaren Publikationen. Boris von Brauchitsch ist Kunsthistoriker, und allein dieser Hinweis sollte genügen, um dem Leser eine Ahnung davon zu vermitteln, aus welcher Perspektive der Autor seine Historiographie der Fotografie zu erzählen versucht.
Das Besondere an diesem wunderbar lesbaren und lehrreichen Text ist sein kulturwissenschaftlicher Ansatz. Der Autor unternimmt den Versuch, die Fotografie phänomenologisch in die gesellschaftliche Entwicklung einzubeziehen und ihre Wechselwirkungen mit der Kunst sowie die durch sie bedingten Veränderungen der Wahrnehmung zu beschreiben.
Mit anderen Worten: Diese Fotografie-Geschichte „stellt die gesellschaftliche Bedeutung und Funktion in den Mittelpunkt und untersucht die gesellschaftliche Veränderung der Wahrnehmung seit der öffentlichen Präsentation des Mediums im Jahre 1839.“
„Eine zentrale Position wird der Fotografie als ganz eigenwilliger Form der Erinnerung eingeräumt. Seit ihren Anfängen galt dieser Qualität des Mediums besonderes Augenmerk.“ Als die Fotografie in ihren Anfängen steckte, war man von dem Detailreichtum und der Abbildungstreue der fotografischen Apparate begeistert.
Fotografien „erschienen den Betrachtern als Abdrücke der Natur, nicht wie Zeichnungen eines Künstlers, sondern wie Zeichnungen des Lichts.“ Diese vorurteilsfreie Abbildung aller Details machte einerseits die Faszination des neuen technischen Mediums aus; andererseits setzte auch gerade hier die Kritik der Kunst ein. Schon 1848 kritisierte Eugène Delacroix die Fotografie: „Der große Künstler konzentriert das Interesse, indem er die unnützen und dummen Details unterdrückt.“ Die Fotografie hingegen würde alles zeigen, auch das Unwesentliche.
Trotz solcher und ähnlicher Kritik war der Siegeszug der Fotografie nicht aufzuhalten. Heute gilt sie selbstverständlich als eine eigenständige Kunstform, hat sich längst von den anderen Künsten, wie der Malerei, emanzipiert und eigene Ausdrucksformen entwickelt.
Mit der Digitalisierung und dem Siegeszug der Smartphones ist die Fotografie ist die Demokratisierung des Mediums so weit fortgeschritten wie nie zuvor. Die Selfie-„Kultur“ und das millionenfache Ablichten von allem und jedem führte zu einer ungeahnten Bilderschwemme, die selbst digital nicht mehr zu bewältigen ist. Wohin führt diese Entwicklung?
Wir leben in einer Zeit des massenhaften Fotografierens. Dank der entsprechenden, leicht zu bedienenden Software ist heute jeder ein potenzieller Fotokünstler. Und doch ist das einzelne wirklich gute und außergewöhnliche Foto immer noch eine Seltenheit.
Mit der Masse stieg auch der Anspruch an die technische Qualität eines guten Fotos, vor allem aber der Anspruch auf seine Aussagekraft. Man könnte auch sagen, der Wettbewerb belebe das Geschäft. Was ist ein gutes Foto? Diese Frage stellt sich heute noch genau so wie vor fast 180 Jahren.
Diese Fotografie-Geschichte ist jetzt (Mai/Juni 2018) in einer komplett überarbeiteten und erweiterten Neuauflage erschienen; ein Grund mehr, sich dieses Buch anzuschauen und zu erwerben!
Wer sich für die historische Entwicklung dieses bis heute faszinierenden Mediums interessiert, sollte unbedingt diese Kleine Geschichte der Fotografie lesen. Denn besser, kompetenter und vor allem reflektierter wurde lange keine Fotografie-Geschichte mehr erzählt. Der Text wird durch einen umfangreichen Anhang und zahlreiche Literaturhinweise ergänzt, sondern auch mit einer Menge interessanter Fotos illustriert; hierbei hat sich Boris von Brauchitsch die Aufgabe gestellt, einmal ganz bewusst andere Fotos auszuwählen als die allzu bekannten Ikonen der Fotografie-Geschichte, die in nahezu jedem Band auftauchen und die schon jeder kennt.
Somit liegt hier eine kompetent und spannend geschriebene Geschichte der Fotografie vor, zu einem unschlagbar günstigen Preis und in schöner Taschenbuch-Ausführung. Was will man mehr?! — Wer nicht sowieso schon vom kreativen Virus des Fotografierens angesteckt ist, wird spätestens während der Lektüre dieses schönen Buches wieder zur Kamera greifen und in Zukunft seine Fotos bewusster gestalten, weil er sich als in einer langen künstlerischen Tradition stehend begreifen kann. Kurz gesagt: Dieses Buch macht Lust aufs Fotografieren!
Autor: Boris von Brauchitsch
Titel: „Kleine Geschichte der Fotografie“
Taschenbuch: 336 Seiten
Verlag: Reclam, Philipp, jun. GmbH
ISBN-10: 3150205190
ISBN-13: 978-3150205198