Magali Nieradka-Steiner: „Exil unter Palmen – Deutsche Emigranten in Sanary-sur-Mer“

Thomas Mann, in einem Korbstuhl auf einer schattigen Terrasse sitzend, im kurzärmeligen weißen Hemd und heller Hose, direkt in die Kamera blickend, nicht lächelnd, dennoch entspannt schauend. Das Foto hinterlässt den Eindruck eines Mannes, der zwar nicht freiwillig an diesem Ort zu weilen, der sich jedoch durchaus mit den Zeitumständen arrangiert zu haben scheint. So stellt man sich das Exil der Privilegierten unter den deutschen Emigranten während der Nazizeit vor: ein Exil wie ein Sommer am Meer, ein Exil unter Palmen, beispielsweise in einem kleinen Fischerort an der Cȏte d’Azur in der Nähe von Toulon, beispielsweise in Sanary-sur-Mer.

Was für die wenigen Privilegierten unter den Geflüchteten zutreffen mag, wie für die Familie um Thomas Mann, die Feuchtwangers, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, sah für die meisten anderen deutschen Exilanten ganz anders aus. Hier bot die Zurückgezogenheit eines Lebens im Süden Frankreichs nicht nur die Bequemlichkeit eines milden Klimas und die niedrigen Lebenshaltungskosten im Vergleich zu Paris oder Marseille, sondern bedeutete auch das Ende der eigenen schriftstellerischen Produktion und ein damit verbundenes Einkommen. Die Manns, Feuchtwangers und Werfels hatten da mehr Glück, denn ihre erfolgreichen Bücher wurden auch in andere Sprachen übersetzt, und so flossen auch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten noch genügend Tantiemen, um einen entsprechend angenehmen Lebensstil zu sichern.

Sanary-sur-Mer wurde in den 1930er Jahren zur „Hauptstadt der deutschen Literatur“. Diese Behauptung ist nicht aus der Luft gegriffen: Eine Gedenktafel, die sich heute vor dem Fremdenverkehrsamt in Sanary befindet, listet 68 Namen auf von deutschen Schriftstellern und Intellektuellen, die sich zwar nicht alle dauerhaft in dem südfranzösischen Fischerort niederließen, aber auf die eine oder andere Art mit Sanary und dem Exil in Verbindung gebracht werden können.

Die Liste ist beeindruckend und klingt wie ein Who is Who des deutschsprachigen Literaturbetriebs und der Intelligenz der Weimarer Republik. Ernst Bloch und Bertolt Brecht, Lion und Marta Feuchtwanger, Walter Hasenclever, Franz Hessel, Anton Kantorowicz, Alfred Kerr, Hermann Kesten, Egon Erwin Kisch, Fritz Helmut Landshoff, die Manns, Ludwig Marcuse, Julius Meier-Graefe, Erwin Piscator, Erich Maria Remarque, Joseph Roth, René Schickele, Ernst Toller, Friedrich Wolf, Arnold Zweig und Stefan Zweig, um nur einige der bekannteren zu nennen.

Die Literaturwissenschaftlerin Magali Nieradka-Steiner ist Deutsch-Französin und hat mehrere Jahre in Südfrankreich gelebt und recherchiert. Exil unter Palmen ist das überzeugende Ergebnis jener jahrelangen und intensiven Forschung über die deutschen Exilanten in Südfrankreich.

Das Ergebnis kann sich wirklich sehen lassen. Der Autorin ist eine wunderbar dichte und atmosphärische Beschreibung der Lebensumstände im französischen Exil gelungen. Basierend auf autobiographischen Texten, administrativen Dokumenten sowie Interviews zeichnet sie den Alltag der deutschen Exilanten nach und reichert ihre Erzählung mit einer Vielzahl von Anekdoten an, die bislang so und vor allem in diesen wechselseitigen Verknüpfungen der Einzelschicksale noch nicht zu lesen waren.

Vor allem jedoch schafft Nieradka-Steiner ein Stimmungsbild der damaligen Exil-Situation, die bei aller Schönheit der Landschaft und den zumeist günstigen Arbeitsbedingungen für jene Schriftsteller am Ende doch von Entwurzelung und nicht selten von Verzweiflung geprägt war.

So beschreibt die Autorin auch sehr anschaulich die Verwandlung des politischen und gesellschaftlichen Umfeldes im Laufe der 1930er Jahre, die von einer freundlichen Duldung der Emigranten nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs umschlägt in eine ablehnende Haltung. Aus den berühmten deutschen Schriftstellern, auf welche die Sanaryens auch nicht wenig stolz waren, wurden plötzlich „feindlichen Ausländer“, die in Lagern inhaftiert oder misstrauisch beäugt wurden.

Für viele deutsche Emigranten wurde Sanary-sur-Mer zum Wartesaal auf dem Weg ins amerikanische Exil. Nicht immer gelang die Ausreise; so mancher zerbrach an den katastrophalen Bedingungen in den Lagern oder nahm sich aus Verzweiflung das Leben. Die Schicksale der deutschen Exilanten in Südfrankreich waren so verschieden wie die Exilanten selbst. Nicht immer waren die Vermögensverhältnisse entscheidend für den guten Verlauf des Exils, doch ohne entsprechende Absicherungen rückte für die meisten das ersehnte amerikanische Ziel ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten in unerreichbare Ferne; für manche endete sie sogar wegen ihrer jüdischen Abstammung in den Gaskammern von Auschwitz.

Magali Nieradka-Steiners Buch über die deutschen Emigranten in Sanary-sur-Mer liest sich wie ein Roman. Die Mischung aus Fakten, Ortsbeschreibungen und Originalzitaten aus Tagebüchern und Texten der Emigranten wird zu einer spannenden und sehr gut lesbaren Mélange, die sowohl für den interessierten Laien als auch für den wissenschaftlichen Leser geeignet ist. Ein umfangreicher Anhang mit Bibliografie und Personenregister erleichtern das wiederholte Nachschlagen von Passagen und die Vertiefung der Lektüre.

Vor allem jedoch macht dieses Buch große Lust, sich selbst auf Spurensuche zu begeben und den Wegen der Exilanten wie der Autorin vor Ort nachzuspüren! Die Jahreszeit könnte hierfür nicht besser gewählt werden: Es ist Sommer und die Sommerferien stehen vor der Tür! Wer bislang noch nicht wusste, wo er seinen Jahresurlaub verbringen könnte, hat nach der Lektüre dieses schönen und mit zahlreichen Fotos illustrierten Buches ein Ziel: Sanary-sur-Mer, die „Hauptstadt der deutschen Literatur“ an der sonnigen Cȏte d’Azur!

 

 

Autor: Magali Nieradka-Steiner
Titel: „Exil unter Palmen – Deutsche Emigranten in Sanary-sur-Mer“
Gebundene Ausgabe: 272 Seiten
Verlag: wbg Theiss
ISBN-10: 3806236569
ISBN-13: 978-3806236569