Vicki Baum: „Hotel Berlin“

„Wie sieht es jetzt in Deutschland aus?“ fragte sich Vicki Baum in ihrem kalifornischen Exil bereits 1943, als die Amerikaner in Sizilien landeten. Gestützt auf Informationen aus den unterschiedlichsten Quellen, aus Augenzeugen-Berichten und Zeitungsmeldungen formte sich beim Schreiben dieses Romans eine imaginierte Welt ihrer deutschen Heimat in Zeiten des totalen Krieges.

Kurz zuvor, im Februar desselben Jahres endete die Schlacht um Stalingrad für die deutschen Truppen mit einer vernichtenden Niederlage, und spätestens jetzt musste jedem Normaldenkenden klar geworden sein, dass die deutsche Expansionsbewegung zu ihrem Ende gekommen war und der Krieg früher oder später verloren sein würde.

„Was denken, fühlen, fürchten und hoffen die Deutschen in einem Augenblick, da schon die ganze Welt das Menetekel an der Wand lesen kann?“ fragte sie sich weiter und begann zu schreiben. Gleich zu Beginn fällt der Führer von der Wand und aus dem Rahmen. Schuld war die Flakabwehr, die sich tapfer gegen die anstürmenden Geschwader der alliierten Bomber stemmte, in ihrem Kampf jedoch die Wand im Foyer zu stärkeren Erschütterungen veranlasste, was dem Führer gar nicht gefiel, worauf er eben zu Boden fiel.

Hotel Berlin nimmt gedanklich die Stränge und das Setting von Menschen im Hotel wieder auf. Jener Roman aus dem Jahr 1929 über ein Grandhotel im Berlin der Goldenen Zwanziger machte Vicki Baum weltberühmt. In diesem Buch wird das urbane Treiben in der bunten 4-Millionen-Metropole aus der Perspektive eines internationalen Hotels erzählt, einem jener Knotenpunkte, an denen sich die Leben verschiedener Menschen kreuzen, die sich ansonsten wahrscheinlich niemals begegnet wären, nun aber wechselseitig ihre Schicksale beeinflussen.

Galgenhumor ist eine recht passende Umschreibung für die geistige Haltung der meisten Figuren in Hotel Berlin. Man hat sich mehr oder weniger mit dem totalen Krieg und dem Wahnsinn der drohenden Vernichtung arrangiert. Allgemein gilt die Parole „Durchhalten bis zum Schluss“. Wer ein falsches Wort redet oder schräge Blicke tauscht, versetzt sich und andere in die Gefahr, von einem der Linientreuen erwischt zu werden.

Für dieses bedrückende Szenario einer Gemeinschaft, die den eigenen Untergang verwaltet, indem sie so weitermacht wie bisher, ganz nach den Vorgaben des Regimes, findet Vicki Baum auch immer wieder Szenen, die wie Glanzlichter wirken, komische Dialoge oder überraschende Wendungen, durch die sich die ganze Absurdität jener Untergangszeit offenbart. Auf diese Weise verleiht sie ihrem Roman eine wundervolle Leichtigkeit, die trotz der düsteren Kriegsthematik immer wieder an den Glanz und die Schwerelosigkeit der Menschen im Hotel erinnert.

Vicki Baums Stil ist leicht und unterhaltend. Oft wurde ihr diese Leichtigkeit von den Kritikern vorgeworfen, was nicht nur ungerecht, sondern auch ziemlich dumm ist. Wenn jemand leicht lesbare Prosa schreibt, bedeutet das noch lange nicht, dass auch der Inhalt leicht und belanglos sein muss. Vicki Baum sitzt hier mit Irmgard Keun in einem Boot, deren Werk ebenfalls unterschätzt und als „Unterhaltung“ abgetan wurde.

Die größte Schwierigkeit lag für die Autorin in der literarischen Bewältigung des Stoffes und in der Verarbeitung realpolitischer Begebenheiten. Man stelle sich vor, man wollte heute als Syrer einen Roman über den Bürgerkrieg in seinem Heimatland schreiben und hierbei „Ross und Reiter“ nennen. Das klingt vor allem immer dann bemüht und etwas holperig nach „Propaganda-Literatur“, wenn die Namen von Politikern und Militärs im Zusammenhang mit ihren Taten fallen und in die Dialoge eingebaut werden sollen.

Bei Vicki Baum liest sich das z. B. so, wenn sich zwei hochrangige Militärs unterhalten: „Wir haben reine Hände und ein reines Gewissen. Aber das ist nicht die Sorte Krieg, für die wir erzogen wurden; das ist kein hübscher Krieg, Stetten. Denk bloß an die Dinge, die wir in Polen und der Ukraine mitansahen und mit unseren guten Namen decken mußten! […] Wir waren dumm, unverzeihlich dumm, diesem Herrn Himmler in die Falle zu stolpern. Aber in der Militärakademie wurde nicht gelehrt, wie man mit Schurken von Himmlers Sorte umzugehen hat.“

Gleichwohl fasziniert dieser Roman durch die geradezu hellseherischen Fähigkeiten seiner Autorin. Hotel Berlin ist ein Zeitdokument und ein spannender Roman über das Berlin der letzten Kriegsjahre, geschrieben aus der sicheren Distanz und unter der kalifornischen Sonne, wodurch die große Einbildungskraft Vicki Baums nur noch mehr geadelt wird.

Hotel Berlin liest sich wie ein Film. Das kommt nicht von ungefähr, denn schon 1945 wurde der Plot unter demselben Titel und unter der Regie von Lou Edelman von Warner Brothers verfilmt, unter anderem mit Helmut Dantine, Peter Lorre, Erwin Kaiser und Kurt Kreuger.

Ein bisschen liest sich auch der Roman wie ein Hollywood-Film, was jedoch nicht abwertend gemeint ist. Die Charaktere sind niemals einförmig und flach, sondern in ihrer Ambivalenz und natürlichen Ambiguität voll ausgearbeitet und wirken realistisch. Auch dies ein weiteres Indiz dafür, dass Vicki Baums Romane nicht zu jenem stereotypisierenden Genre der Unterhaltungsliteratur zu rechnen sind, sondern einfach nur unterhaltsam und gut geschrieben sind!

Hotel Berlin ist ein spannender Roman aus dem untergehenden Berlin in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Ein packender historischer Roman für alle, die eine wohl ziemlich realistische Vorstellung von jener absurden Welt des totalen Untergangs und vom Überleben in den Trümmern der Gesellschaftsordnung bekommen wollen.

 

 

Autor: Vicki Baum
Titel: „Hotel Berlin“
Taschenbuch: 288 Seiten
Verlag: Wagenbach
ISBN-10: 3803127998
ISBN-13: 978-3803127990