Robert Walsers Spaziergang ist eine seltsame und verstörende Erzählung. Was beschrieben wird, ist kein Spaziergang, sondern eine Aufeinanderfolge von Begegnungen, imaginierten wie scheinbar realen.
Verstörend ist an diesem Text zunächst seine Entstehungszeit. 1913 war Robert Walser nach einigen Jahren in Berlin wieder in seine Geburtsstadt Biel in der Schweiz zurückgekehrt. Nachdem 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, machte auch die Schweiz mobil. Auch Walser wurde einberufen und dem Landwehrbataillon 134 zugeteilt. Mehrere Monate im Jahr musste er fortan in entlegenen Bergregionen seinen Dienst antreten. In den Pausen entstand 1916 dieser Spaziergang.
Vielleicht lässt sich diese Erzählung am besten als eine Schreibtherapie verstehen. Während in jenen Tagen im Westen die grausame Schlacht an der Somme tobt, bei der eine halbe Million Menschen sterben, schreibt sich Walser ganz bewusst eine andere Welt zurecht. Es scheint die Flucht in eine entlegene Region des Herzens zu sein, geschrieben in einer unglaublich umständlichen und kurvenreichen Sprache, die noch aus einer Zeit stammt, die mit dem Ausbruch des Weltkriegs für immer verloren gegangen war.
Das Schreiben wird für Walser zu einer Überlebensstrategie. Er schreibt und träumt sich in eine alternative Welt hinein, in der er sich ganz dem Spiel mit den Worten und seinen Fantasien hingeben kann. Mit anderen Worten macht Walser mit dieser Erzählung einen kleinen Spaziergang fernab von der kanonendonnernden Realität des Weltkriegs.
Der Ich-Erzähler dieses Textes begegnet einer ganzen Reihe von Menschen — einem Buchhändler, einem Finanzbeamten, einer Dame usw. —, doch eigentlich begegnet er ihnen überhaupt nicht, sondern monologisiert in einem fort. In permanenter Reflexionshaltung kommentiert er sein Verhalten, entschuldigt seine Rede, findet alternative Erklärungsmöglichkeiten und wägt ab, spricht den Leser immer wieder direkt an, wendet sich an ihn, den Abwesenden, ohne sich wirklich für dessen Gefühle zu interessieren.
Der Erzähler wirkt wie ein neurasthenischer und von etwas Unsichtbarem getriebener Mensch, der doch dem Leser nur „mitteilt“, dass er eines schönen Vormittags die Lust verspürte, einen kleinen Spaziergang zu machen. Wäre dieser Text zehn oder zwanzig Jahre früher geschrieben worden, so repräsentiertes sein Erzähler nahezu perfekt das nervöse Krankheitsbild der Neurasthenie, jener Modekrankheit des modernen Großstädters um 1900. Doch Walsers Spaziergang wurde mitten im Ersten Weltkrieg geschrieben; Form und Inhalt sind jedoch eine Reminiszenz an eine untergegangene Welt.
Fürchterlich umständlich sind seine Erklärungen; schließlich möchte er ja niemanden verletzen und auch nicht falsch verstanden werden. Entsprechend unsicher ist der Erzähler in seinen Schilderungen; auffällig oft verwendet er Formulierungen wie „x oder y“; der Indifferenz der Beschreibungen korrespondiert die Vagheit und Unbestimmtheit des erzählerischen Standpunktes.
Genau genommen gibt es hier auch gar keinen richtigen Erzähler, dieser wird nur vorgeschoben: Letzten Endes geht es nur darum, was der Stift in der Hand mit dem Text macht, wo er den Autor hinführt, kurz: wohin der Stift einen Spaziergang unternimmt in die Fantasie des Autors.
Das Schreiben wird zum Sprachspiel, zu einem Spiel mit ungewissem Ausgang, und der Prozess des Schreibens wird zur heilsamen Selbsttherapie gegen den Wahnsinn des Krieges oder den Ennui des Wartens. Was für den Autor zur Schreibtherapie wird, dient dem Leser 1916 zur Lesetherapie. Indem er sich in der fragmentarischen Zauberwelt dieser Erzählung verliert, flüchtet auch er lesend aus dem Wahnsinn des Weltenbrandes.
Noch einmal sehnsüchtig zurückblickend, hört er die Sprache einer zum Untergang verurteilten Kultur, noch einmal werden die Regeln des Anstands bemüht und Wert gelegt auf ein korrektes Verhalten in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, während die Welt in Flammen steht und das Massenmorden der Hunderttausenden in den sinnlosen Stellungskriegen längst zur allgemeinen Verrohung beigetragen hat.
Walser hat während des Krieges nicht viel von dem Wahnsinn des Krieges mitbekommen. Die Schweiz war in den beiden Weltkriegen so etwas wie Inseln der Ruhe; wie in dem Auge eines Orkans saß Walser in seinem heimatlichen Biel und schrieb, während der Mahlstrom einer grausamen Kriegsmaschinerie um ihn herum alles zermalmte und die Welt in Trümmern legte.
Der Spaziergang ist für den heutigen Leser vor allem ein faszinierender Text, weil er vor allem sprachlich unterhält und vor dem geistigen Auge des Lesers das Bild eines seltsam aus der Zeit gefallenen Erzählers entstehen lässt, der mit einem hohen Mitteilungsdrang ausgestattet ist und dabei auch nicht davor zurückschreckt, die Nerven des Lesers über Gebühr mit seinen Anmerkungen und ausufernden Kommentaren zu beanspruchen.
Gut hundert Jahre nach Erscheinen dieser Erzählung macht sie auch heute vor allem wegen ihrer umständlichen und vornehmen Sprache noch Freude beim Lesen. Sie ist aber auch ein seltenes und interessantes Beispiel dafür, wie man in den Zeiten des Krieges auf diese Ausnahmesituation literarisch reagieren konnte: nicht etwa durch eine naturalistische Darstellung des Krieges, sondern gerade durch einen eskapistischen Spaziergang in die jüngste Vergangenheit.
Autor: Robert Walser
Titel: „Der Spaziergang“
Gebundene Ausgabe: 117 Seiten
Verlag: Insel Verlag
ISBN-10: 3458194495
ISBN-13: 978-3458194491