Michael Knoche: „Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft“

Als Außenstehender merkt man es vielleicht nicht so schnell, aber wer sich, wie Michael Knoche, von 1991 bis 2016 Direktor der Zentralbibliothek der deutschen Klassik (später Herzogin Anna Amalia Bibliothek), seit langer Zeit in den Gefilden des deutschen Bibliothekswesens aufhält, weiß, dass sich die wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland in einer schweren Krise befinden.

„Bibliotheken bleiben nur dann starke Akteure im Dienst von Wissenschaft und Öffentlichkeit, wenn sie in die Lage versetzt werden, viel arbeitsteiliger vorzugehen“. So lautet eine der zentralen Thesen in Michael Knoches Denkschrift Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft, welche jüngst im Wallstein-Verlag erschienen ist.

Knoche ist der festen Überzeugung, dass Bibliotheken heute nur noch im System funktionieren und nicht mehr als Solitäre. „Aber dafür braucht es eine politische Strategie, damit aus vielen Bibliotheken ein System von Bibliotheken wird.“ Warum das so ist und wie man dahinkommen könnte, zeigt der Autor in seinem aufmunternden Buch.

Dass hier jemand schreibt, der wirklich Bücher liebt und so eng mit dem Bibliothekswesen verbunden ist, wie man es sich nur vorstellen kann, merkt man vom ersten Satz an. Eine ganz besondere Liebe zu Büchern bewies Michael Knoche auch im Jahr 2004, als er die erste Gesamtausgabe der Lutherbibel (von 1534) unter Lebensgefahr aus der brennenden Anna-Amalia-Bibliothek rettete. — Doch zurück zum eigentlichen Thema.

Angesichts der Digitalisierung sehen sich die wissenschaftlichen Bibliotheken heute ganz neuen Herausforderungen ausgesetzt. Während Digitalisate auf der einen Seite der Garant für einen sofortigen und (für den Benutzer) kostenlosen Zugang zum gesuchten Text bedeuten, entstehen für die Bibliotheken, welche diese Texte zur Verfügung stellen und vorrätig halten möchten, einige schwerwiegende Probleme; dies gilt ganz besonders für Artikel in wissenschaftlichen Fachzeitschriften.

„Die fünf größten internationalen Verlage (Elsevier, Springer Nature, Wiley-Blackwell, Taylor & Francis, Sage Publications bzw. American Chemical Society) veröffentlichen in ihren Zeitschriften mehr als 50 Prozent aller wissenschaftlichen Artikel.“ Aber ist mit diesen 50 Prozent wirklich eine Grundversorgung des Wissenschaftsbetriebs gewährleitet? — „Will eine Bibliothek nicht einseitig nur die Produkte der großen Verlagshäuser anbieten, muss sie sich mit einer großen Menge von Verträgen der mittleren und kleineren Verlage auseinandersetzen.“ Das kostet nicht nur Zeit und Ressourcen, sondern führt auch die Mitarbeiter schnell an ihre Grenzen, wenn es gilt, individuelle Nutzungsbedingungen auszuhandeln oder Nutzerstatistiken zu erstellen.

Doch selbst wenn es einer Bibliothek gelingt, ihren Zugang zu elektronischen Texten erfolgreich zu verhandeln, stellt sich die Frage nach der Langzeitsicherung dieser ausschließlich digital verfügbaren Texte. „In immer kürzeren Abständen müssen die Speicherkonzepte für die Langzeitspeicherung überprüft und angepasst werden.“ Nicht immer ist also Digital das bessere Analog: „Die gedruckten Medien garantieren die Überlieferung vorläufig noch besser als die digitalen. Papier lässt sich im Zweifel kostengünstiger und einfacher restaurieren, als „bits and bytes“ haltbar zu machen.“

Michael Knoche spricht in seinem Buch öfters von Digitalfundamentalisten, und tatsächlich lastet auf den Bibliotheken ein immenser Druck vonseiten der Digital-Lobby: Was so chic daherkommt und so schlank und sexy zu sein scheint — eine Bibliothek, die voll auf Digitalisierung setzt und den analogen Bestand an Büchern vernachlässigt —, stellt sich schnell als das vorschnelle Abbiegen in eine Sackgasse heraus. Denn eine zentrale Aufgabe der Bibliothek ist nach wie vor das Sammeln.

„Sammeln ist demnach keine nostalgische, auf die Vergangenheit bezogene, sondern die zukunftsbezogene Aktivität par excellence. Sie hat das Ziel, einen Vorrat für den voraussehenden bedarf ebenso anzulegen wie einen Überschuss für das Nicht-Antizipierbare.“ Der Sammelauftrag der Bibliothek besteht nicht nur darin, möglichst vollständige Bestände an Publikationen einer wissenschaftlichen Disziplin zu garantieren, sondern darüber hinaus auch in der speziellen Anordnung und Zusammenstellung von Sammlungen.

„Wissenschaftler gehen oft mit derselben Erwartung in die Bibliothek […], mit der Leser morgens in die Zeitung schauen. Sie können nicht im Vorhinein sagen, was genau die interessiert.“ In der digitalen Wüste einer nur noch auf elektronische Texte konzentrierten Bibliothek wäre sie völlig aufgeschmissen, denn dieser fehlt die kuratorische Leistung des Bibliothekars, der innerhalb der Fachgebiete die Bestände nach bestimmten Unterkategorien sortiert und auf diese Weise die Möglichkeit eines kursorischen Überblicks schafft.

„Anders als in den Natur- und Sozialwissenschaften, der Technik und Medizin haben digitale Zugänge in den Kultur- und Geisteswissenschaften eine unterstützende Funktion, spielen aber keine Hauptrolle.“ Gerade die Kultur- und Geisteswissenschaften werden durch interdisziplinäre Forschungsansätze inspiriert, die nur in realen Bibliotheken und mithilfe von echten Bücherbeständen entwickelt werden können. „Bibliotheken funktionieren zwar auch wie Suchmaschinen. Aber ihre schönste Aufgabe besteht darin, Orte zu sein, wo Nutzer etwas finden, was sie nicht gesucht haben.“

Wenngleich eine grundsätzliche Entscheidung für die Anschaffung neuer Titel in digitaler Form problematisch ist, hält der Autor die Retrodigitalisierung, also die Digitalisierung eigener Buchbestände, für sehr begrüßenswert. Hier kämen die Bibliotheken ihrer Aufgabe der Bereitstellung von Informationen nach, indem sie den Nutzern unabhängig vom Besuch der Bibliothek den Zugang zu jenen Informationen ermöglichen.

Hierdurch ergeben sich noch weitere, bislang ganz ungeahnte Möglichkeiten der Wissensverknüpfung des „bekannten Wissens mit dem neuen Wissen“ — etwas, das bislang nur in den Räumen der Bibliothek selbst möglich war. „Die Investitionen für Retrodigitalisierung zahlen sich aus.“ Das passiert heute schon in großem Stil. „Im Zentralverzeichnis digitalisierter Drucke (www.zvdd.de), einem Gemeinschaftsunternehmen deutscher Bibliotheken, sind vor allem ältere Bücher mit Erscheinungsdatum vor 1900 in hoher Qualität kostenfrei abrufbar.“

In diese Richtung müssen die deutschen Bibliotheken gehen. Die dringend notwendigen Restaurierungen der Altbestände könnten mit den Digitalisierungsaufgaben verknüpft werden: Was restauriert wird, wird auch digitalisiert, und was digitalisiert wurde, auch gleich restauriert. So können die Bestände dauerhaft und in hybrider Form für die Nachwelt konserviert werden.

Diese Retrodigitalisierung kommt nicht zuletzt auch wieder den Kultur- und Geisteswissenschaften zugute: Denn in digitaler Form kann eine „ungeheure Masse an bisher kaum zu bewältigenden Dingen […] zueinander in Beziehung gesetzt werden. […] Ältere Bücher […] werden wie Schneewittchen wachgeküsst, wenn sie in Computerkatalogen nachgewiesen sind. Ihre Nachfrage belebt sich.“

Bislang laufen diese Digitalisierungen in Deutschland projektbasiert, und das heißt: zeitlich befristet und kostenmäßig gedeckelt. Im Rahmen einer umfänglichen Umstrukturierung der wissenschaftlichen Bibliothekslandschaft hin zu einem dezentralen Verbundsystem sollten diese Aufgaben der Retrodigitalisierung der Bestände durch feste Kosten- und Planstellen zu einem permanenten Aufgabenbereich der Bibliotheken werden. Leider sind wir von einer solchen Umstrukturierung meilenweit entfernt: „Die wissenschaftlichen Bibliotheken unterstehen in der Regel den Ländern, aber das Denken in Regionen macht im World Wide Web wenig Sinn.“

Doch die Zeit drängt. „Jährlich werden knapp zwei Millionen Bände gedruckter Literatur in die Papiermühlen gegeben. […] Die Ablösung des Leitmediums Buch wird von den Digitalfundamentalisten mit aller Macht betrieben. Das hohe Tempo ist aber gefährlich.“ Bereits 2009, also vor acht Jahren, hat ein Zusammenschluss von zwölf Archiven und Bibliotheken, die Allianz Schriftliches Kulturgut Erhalten [sic!] eine Denkschrift mit dem vielsagenden Titel Zukunft bewahren vorgelegt und dem Bundespräsidenten übergeben.

Seit 2015 liegen nun die Bundesweiten Handlungsempfehlungen und eine umfassende Bilanz zu Schäden und gefahren für die schriftliche Überlieferung in Deutschlands Archiven und Bibliotheken vor. „Es wird darin empfohlen, dass sich Bund und Länder auf ein gemeinsames Förderprogramm verständigen und damit dringend notwendige Maßnahmen in den Archiven und Bibliotheken ermöglichen.“ Geschehen ist seitdem: nichts. Die Länder konnten in der Kultus- und Ministerkonferenz keine Einstimmigkeit darüber erzielen.

So frisst sich die Säure munter weiter durch die Bestände ab 1850, und die älteren Bücher sind vor allem durch beschädigte Einbände gefährdet und fallen buchstäblich auseinander. „Wegen unzureichender Ressourcen sind wichtige Bestände unbenutzbar und der Forschung entzogen. […] Bibliotheken und Archive bleiben weiter auf sich gestellt und können ihre wichtigste Aufgabe, die kulturelle Überlieferung für die nächste Generation zu bewahren, einerseits aus Geldmangel und andererseits wegen fehlender Koordinierung nur unzureichend erfüllen.“

Schaut man sich in den anderen europäischen Ländern um, so sind hier bereits umfangreiche Restaurierungsprogramme mit stattlicher Förderung damit beschäftigt, das kulturelle Erbe zu bewahren. Nur in Deutschland verschimmeln viele Bestände in unsichtbaren Magazinen und werden dem Verfall preisgegeben.

Nicht nur in diesem Punkt, sondern generell sind „Arbeitsteilung und Kooperation“ die Zauberworte für eine dringende Reform der Bibliotheken. „Alle Bibliotheksleistungen in Bestandsaufbau, Nachweis, physischer Aufbewahrung, Speicherung digitaler Daten und Informationsvermittlung können sinnvoll nur noch in abgestimmter Kooperation organisiert werden.“

Es gibt in Deutschland leider keine nationale Bibliothekspolitik. Darauf weist der Autor an vielen Stellen seiner Denkschrift hin. Das liegt natürlich vor allem an der föderalen Struktur und der Hoheit der Länder. So sind kurioserweise die Wissenschaftsorganisationen, allen voran die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die eigentlichen Akteure einer nationalen Bibliothekspolitik.

Die DFG hatte sogar über mehrere Jahrzehnte ein Sondersammelgebietsprogramm gefördert, das den Bibliotheken den Ankauf von Fachtiteln zur Vervollständigung ihrer jeweiligen Sammlungsschwerpunkte finanzierte. Doch dieses Programm wurde nach einer Evaluation 2013 gestoppt bzw. ersatzlos gestrichen. „Damit ist das fein geknüpfte Netz der überregionalen Bereitstellung von Publikationen in Deutschland gerissen.“ Was jetzt aus den Spezialbeständen wird, ist unklar. Denn keine Bibliothek ist von sich aus (finanziell) in der Lage, die Sammlung von Spezialliteratur aus eigener Kraft weiterzuführen. Im Ergebnis droht eine Ausdünnung der existierenden Bestände und damit einer langsame Erodierung der deutschen Wissenschaftslandschaft.

Am Ende seiner mitreißend geschriebenen Bestandsaufnahme erlaubt sich Michael Knoche zu träumen. Folgende Vernetzungen wären für die Bibliotheken zu wünschen: „ein neukonzipiertes verteiltes Sondersammelgebietsprogramm, Investitionen in Langzeitarchivierung elektronischer Publikationen, eine auskömmliche Finanzierung der Erhaltung der schriftlichen Überlieferung, Mittel für die Retrodigitalisierung einschließlich des Dauerbetriebs der Deutschen Digitalen Bibliothek sowie ein bibliothekarisches Kompetenzzentrum auf Bundesebene.“

Wenn man sich die finanziellen und personellen Probleme der Bibliotheken sowie die weitgehende Gleichgültigkeit der Politik anschaut, könnte man den Eindruck bekommen, dass die Bibliotheken ihre beste Zeit bereits hinter sich haben. „In offensichtlichem Widerspruch zur zunehmenden Bedeutung der digitalen Bibliothek entstehen auch in der Gegenwart großartige neue Bibliotheksbauten.“ In Berlin, Leipzig, Dresden, Cottbus, Weimar und Darmstadt sind in den letzten Jahren sehr ansprechende und vor allem einladende Bibliotheken entstanden. Sie sind reale Orte der Begegnung, des Austauschs und der Informationsvermittlung, die sehr stark angenommen werden und die durch keinen noch so beeindruckender digitalen Textserver ersetzt werden könnten.

„In einer Bibliothek werden Beziehungen zwischen Menschen und Publikationen, zwischen Publikationen und Publikationen und zwischen Menschen und Menschen gestiftet. Eine Bibliothek ist weder reiner Treffpunkt noch reines Medienhaus, sondern das Geflecht dieser Bezüge.“ Darin liegt der alles entscheidende Unterschied.

Bibliotheken sind „Denkräume“, und in ihnen empfindet sich der Leser als Teil einer kulturellen Gemeinschaft. Damit dies aber auch in Zukunft so bleibt, muss die deutsche Bibliothekslandschaft dringend reformiert werden. An die Stelle der solitären wissenschaftlichen Bibliotheken muss ein System aus interagierenden und kooperierenden Bibliotheken treten, die durch zentrale nationaler Institutionen gesteuert und durch eine nationale Kulturpolitik gefördert werden. Nur so kann die Idee der Bibliothek als Ort der Bewahrung von Kulturgütern und der Wissensvermittlung auch in Zukunft gewährleistet werden. Im Moment sitzen die Bibliotheken noch „mit ihren unerledigten Gemeinschaftsaufgaben in der Föderalismusfalle“. Erst eine nationale Bibliothekspolitik, die alle anstehenden Aufgaben abstimmt und koordiniert, wird zu einer Trendwende führen.

So gehört auch das Schlusswort dem Autor, Michael Knoche, wenn er schreibt: „Die Merkmale des Internets sind Flüchtigkeit, Nicht-Hierarchie, Ubiquität und Vernetzbarkeit von allem und jedem. Die Merkmale von Bibliotheken sind Dauer, Ordnung, Kontext und Konzentration. Gepriesen sei die Zeit, die über beides verfügt und es kombinieren kann.“

 

 

Autor: Michael Knoche
Titel: „Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft“
Gebundene Ausgabe: 138 Seiten
Verlag: Wallstein
ISBN-10: 3835332368
ISBN-13: 978-3835332362