Erich Kästner: „Das Blaue Buch — Geheimes Kriegstagebuch 1941 – 1945“

Ab 1933 gehörte Erich Kästner nicht zu den verbotenen Schriftstellern; aber sein Antrag auf Aufnahme in die Schrifttumskammer wurde abgelehnt, und fortan durfte er in Deutschland keine Bücher mehr veröffentlichen. Er tat es aber doch — mit Pseudonym oder unter dem Namen von Freunden.

Auch als seine Bücher auf die Scheiterhaufen der Bücherverbrennungen geworfen wurden, verließ er nicht das Land und ging ins Exil, sondern blieb. Wie viele Andere hielt er das Dritte Reich der Nationalsozialisten für einen kurzzeitigen Spuk und eine vorübergehende Erscheinung; Kästner wollte bleiben und Augenzeuge dieser Zeit sein. Er hatte sich vorgenommen, genau zu beobachten, alles aufzuschreiben und in der Zeit danach Bericht zu erstatten.

Schon bald nach seinem großen Romanerfolg Fabian dachte Erich Kästner an eine Fortsetzung dieses Romans, doch dann kam Hitler dazwischen, und aus dem kurzen Intermezzo wurde ein zwölfjähriger Niedergang der deutschen Kultur und ein haltloser Sturz in die Unvorstellbarkeiten menschlicher Abgründe.

In einem blauen Blindband, wie ihn Verlage aus Druckmuster herstellen, trug er seine Aufzeichnungen ein. Er schrieb sie nicht in normaler Schreibschrift, sondern — wie alle seine Aufzeichnungen — in der Gabelsberger Kurzschrift, die seinerzeit schon relativ selten, aber von manchen schon noch angewandt und gelesen werden konnte.

Zunächst verschwand das Blaue Buch in seiner über 4000 Bände umfassenden Bibliothek; später, infolge der zunehmenden Luftangriffe, trug er es immer in seiner Aktentasche bei sich. Das Blaue Buch ist heute Teil von Erich Kästners Nachlass und liegt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach.

1941 begann Kästner sein persönliches „Kriegstagebuch“ — er nannte es selbst so. Es war weniger ein persönliches Tagebuch als ein journalistisches Protokoll von Begegnungen und Ereignissen, eher eine Materialsammlung für den geplanten Roman als eine Selbstauskunft oder der Versuch einer Selbstvergewisserung. Kästners Schreibstil ist kühl und wirkt aus heutiger Sicht seltsam unbeteiligt; doch Kästner hat sein journalistisches Handwerk in den 1920er Jahren gelernt, und auch seine damaligen Feuilletonbeiträge sind ganz in diesem Stil der Neuen Sachlichkeit verfasst.

Nach einem halben Jahr bleibt das Tagebuch jedoch liegen, Kästners Geduld und die nötige Disziplin waren schon bald erschöpft. Noch zweimal beginnt er von Neuem: nach der Schlacht von Stalingrad und in der Endphase des Krieges.

„Die Tagebuch-Halbjahre 1941, 1943 und 1945 akzentuieren fast in der Art eines klassischen Dramas drei Stadien des ‚totalen Krieges‘: die siegreiche Anfangsphase, den Umschlag und die Katastrophe.“

Zeitgleich finden sich Aufzeichnungen zu jenem Roman-Projekt, oder besser: zu zwei Roman-Projekten. Kästner drehte den Blindband einfach auf den Kopf und begann vom anderen Ende her diese Notizen immer bei Gelegenheit einzuschreiben. Kästner-Freunde kennen zumindest das erste Konvolut dieser Notizen und Passagen als das etwa 12-seitige Roman-Fragment Der Doppelgänger.

Die vorliegende kommentierte Ausgabe des Blauen Buches erweitert die bereits 2006 erschienene Ausgabe um diese Roman-Konvolute und weitere im Zusammenhang mit diesem Kriegstagebuch stehende Aufzeichnungen Erich Kästners.

Der gegenüber der alten Ausgabe stark erweiterte und aktualisierte Kommentar ist zweigeteilt. „Neben dem fortlaufenden Text finden sich Einzelstellenerläuterungen auf den jeweiligen Doppelseiten in einer Marginalspalte am Rand; die Personen, die zum Teil einmal, häufig aber immer wieder vorkommen, werden im abschließenden Personenregister aufgeführt, bei den Kästner-Texten werden Einzelbiographien hinzugefügt, soweit ermittelbar.“

Die Tagebuchaufzeichnungen aus der Endphase des Krieges Anfang 1945 und darüber hinaus hatte Kästner bereits selbst unter dem Titel Notabene 45 herausgegeben. Dies geschah erst relativ spät (1961) und in stark veränderter Form. Denn die von ihm nachträglich eingeschobenen Kommentare verwandeln viele Einträge in die Notizen eines geradezu hellseherisch begabten Autors.

Dass dies jedoch keineswegs der Fall war, kann man in dieser vorliegenden Originalausgabe nachlesen. Hier malen die unveränderten Einträge ein ganz anderes Bild und zeigen, wie schwierig es für Kästner (wie für jeden anderen) war, die eintreffenden Nachrichten zu bewerten und richtig einzuordnen.

Kästner wusste aus Erzählungen vom Schicksal der Exilanten, hörte auch von den Konzentrationslagern und anderen Gräueltaten im Verlauf des totalen Krieges; gleichwohl fiel es schwer, sich ein objektives Bild von den Dingen zu machen. So versuchte er immer wieder, die vorliegenden Informationen zu gewichten und sie auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen.

Ein Teil dieser Versuche waren sicherlich auch die vielen Zeitungsausschnitte, die Kästner in seinem Kriegstagebuch sammelte und die auch in der vorliegenden Ausgabe abgedruckt sind. Diese offiziellen Nachrichten kommentierte er zumeist medienkritisch und konnte auf diese Weise auch vieles als plumpe Propaganda entlarven.

Der letzte Eintrag in Erich Kästners Blauem Buch stammt vom 29.7.1945. Es ist die Wiedergabe des Augenzeugenberichts des Auschwitz-Überlebenden Kratz. Er beschreibt die unfassbaren Vorgänge in den Konzentrationslagern, Vergasungen, Erschießungen, medizinische Experimente und sadistische Folter an Häftlingen. Danach bricht das Tagebuch ab.

Kästner musste an diesem Punkt klar geworden sein, dass sich sein Roman-Projekt im Angesicht dieser Unfassbarkeiten nicht in der geplanten Form realisieren lassen würde. Es kann keinen Fabian 2 geben, der das Dritte Reich ironisch überhöht und ins Lächerliche zieht, wenn von eben jenem Dritten Reich derartige Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten in bislang ungeahnter Brutalität ausgegangen waren.

Es ist vor allem dem Kästner-Biografen und Herausgeber Sven Hanuschek zu verdanken, dass diese neue und erweiterte kommentierte Ausgabe des Blauen Buches (in Zusammenarbeit mit Silke Becker und Ulrich von Bülow) erscheinen konnte.

Silke Becker und Ulrich von Bülow hatten Kästners Tagebuchaufzeichnungen von 1941-1945 bereits 2006 als einen Sonderband der Marbacher Magazine herausgegeben — heute längst vergriffen —, und dieser Text wurde nun um die Notizen für die beiden Roman-Konvolute I und II sowie um Kästners Aufzeichnungen zu seiner Nietzsche-Lektüre und weitere Beilagen ergänzt. Die seinerzeit von Herbert Tauer erstellte Umschrift der Tagebucheintragungen aus der Gabelsberger Kurzschrift wurde nur kaum verändert; auch die Interpunktion und die Absatzgestaltung wurde möglichst beibehalten.

Wichtig war es den Herausgebern jedoch, keine historisch-kritische Edition, sondern eine Leseausgabe des Blauen Buches zu schaffen, die dem Leser einen leicht verständlichen und gemäß dem aktuellen Forschungsstand kommentierten Text präsentiert. Dieses Vorhaben ist den Herausgebern hervorragend gelungen. Gleichwohl liefert diese Ausgabe auch für den akademischen Betrieb eine erfreuliche Aktualisierung und Zusammenstellung der Texte aus dem Nachlass von Erich Kästner.

 

 

Autor: Erich Kästner
Titel: „Das Blaue Buch — Geheimes Kriegstagebuch 1941 – 1945“
Gebundene Ausgabe: 405 Seiten
Verlag: Atrium Zürich
ISBN-10: 3855350191
ISBN-13: 978-3855350193