Wenn es so etwas wie ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis gibt, so hat sich Wladimir Kaminer längst darin eingeschrieben. Seine amüsanten Geschichten von alltäglicher Skurrilität gehören mittlerweile zum Kanon der deutschsprachigen literarischen Satire.
Wie der geniale Altmeister Max Goldt, so kann auch Wladimir Kaminer schreiben, worüber er will: Immer schlägt in diesen Texten jenes große russische Herz und zeigt sich in seinen Geschichten jener tiefe und warme Blick auf die Menschen, den vielleicht nur jemand so haben kann, wenn er in zwei Kulturen zuhause ist und so stets die eine mit der anderen vergleichen kann.
Im Grunde könnte Kaminer über alles Mögliche schreiben: über einen Topflappen-Sammler, einen Einbauküchen-Katalog, eine Hamsterzucht-Ausstellung oder die schönsten Mikrowellen-Rezepte Abchasiens. Immer würde ein Kaminer-Text daraus und immer würden wir die leicht kehlige und auch nach fast 30 Jahren in Deutschland immer noch mit starkem Akzent sprechende Stimme des Autors beim Lesen im Ohr haben.
Es gibt Dinge, die kann man einfach nicht besser machen, und Dinge, die am besten sind, wenn sie so bleiben, wie sie schon immer waren. Kaminers Texte gehören dazu.
In seinem jüngsten Buch geht es um die Flüchtenden aus aller Herren Länder, vor allem aber aus Syrien, und ihr Ankommen in Deutschland. — Ausgerechnet Deutschland, dachten wohl viele und dachte auch der Autor, als er den ersten Ankömmlingen begegnete. Das war 2016 in Wien, als er seinen alten persischen Freund Ali auf dem Hauptbahnhof besuchte. Dort arbeitete dieser am Info-Point für die Neuankommenden. Für die meisten Flüchtenden war Wien nur eine Zwischenstation in ein besseres Europa, in ein besseres Leben.
Doch wo genau lag dieses bessere Europa? Manche hatten klar Vorstellungen: Finnland, Island. Warum gerade dorthin? — Für die meisten wurde aber nach und nach vor allem Deutschland der Sehnsuchtsort und das Ziel der langen Reise. Es hatte sich herumgesprochen, dass es hier wohl am angenehmsten sei, und letztlich stimmte das ja sogar.
Ausgerechnet Deutschland ist bei allem Humor und den witzigen Geschichten, die Kaminer wie immer im gewohnten Plauderton erzählt, als säße man mit ihm in einem Café um die Ecke von seiner Wohnung im Prenzlauer Berg. Trotzdem haben die Themen Migration und Integration eine eigene Ernsthaftigkeit und Tiefe, welche den meisten anderen Büchern Kaminers eher abgeht.
Dies macht die Lektüre umso spannender und auch lohnender. Denn man erfährt hinter den vielen Anekdoten und zotigen Geschichten eine ganze Menge Einblicke in die Erfahrungswelt der Flüchtenden. Welche Widerstände müssen bewältigt werden? Mit welchen ganz alltäglichen Schwierigkeiten werden sie konfrontiert? Welche sprachlichen und kulturellen Hindernisse müssen überwunden werden, damit Kommunikation und Austausch stattfinden können?
Wladimir Kaminers Buch ist also so lustig wie alle seine vorigen Bücher — und gleichzeitig macht die Flüchtlings-Thematik diesen Kaminer zu einem besonderen. So oder so und auf jeden Fall ein absolutes Muss für die Fans und ein empfehlenswertes und unterhaltsames Büchlein für alle Anderen.
Autor: Wladimir Kaminer
Titel: „Ausgerechnet Deutschland — Geschichten unserer neuen Nachbarn“
Broschiert: 240 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag
ISBN-10: 3442487013
ISBN-13: 978-3442487011