Die klare Botschaft dieses interessanten und hochaktuellen Buches aus dem Reclam-Verlag lautet, dass wir uns keine allzu großen Sorgen machen sollten: Berlin ist nicht Weimar, wie Bonn auch schon nicht Weimar war.
Die Beiträge in diesem hübsch gestalteten und mit mehreren Illustrationen ausgestatteten Büchlein (120 Seiten dick) stammen von Historikern und Politikwissenschaftlern aus dem universitären Umfeld, also von Autoren, die wissen, wovon sie reden. Dies unterscheidet sie schon einmal grundsätzlich von den rechten Populisten und den meisten Anhängern der rechten Parteien.
An dieser Stelle wird darauf hingewiesen, dass der Rezensent keineswegs der Ansicht ist, dass die Aktivisten der AfD und anderer Gruppierungen schlichtweg „dumm“ sind, wenngleich sie die Leute für dumm verkaufen wollen. Ganz im Gegenteil kennen diese Leute die historischen Zusammenhänge recht gut und wissen ziemlich genau, wie sie die im Umlauf befindlichen Informationen für ihre Zwecke interpretieren und einsetzen.
Von einer Verharmlosung dieser neuen populistischen Bewegungen ist also deutlich zu warnen. Gleichwohl sind die Berliner Verhältnisse aus mehreren Gründen nicht mit den Weimarer Verhältnissen vergleichbar. Die Beiträge in diesem Buch belegen diese Einschätzung aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Weimarer Zeit und anhand von verschiedenen Teilbereichen des damaligen politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Lebens im Vergleich zu unserer jeweiligen aktuellen Situation.
Am Ende des Buches zieht Andreas Wirsching ein beruhigendes und trotzdem zur Wachsamkeit aufrufendes Fazit. „Die Erinnerung an Weimar als die Demokratie, die ihre Freiheit verspielte mit all den entsetzlichen Folgen, bleibt ein Menetekel. Sie bleibt ein Lehrstück für die Gefährdung und Selbstgefährdung der Freiheit.“
Den die Freiheit muss nicht nur gegen eine Bedrohung von außen verteidigt werden, vielleicht wichtiger ist noch die Gefahr, die der Demokratie von innen her droht – durch Nachlässigkeit, Politikverdrossenheit oder durch eine allgemeine Müdigkeit der Gesellschaft wie des Einzelnen.
Demokratie und Freiheit sind, so sehr sie für uns, die wir seit knapp sechzig Jahren in diesen Verhältnissen leben dürfen, zum natürlichen Rahmen unserer Lebensumstände gehör(t)en, eben leider keine garantierten Selbstverständlichkeiten. So unbequem die Erkenntnis auch ist: sie müssen täglich erarbeitet und verteidigt werden.
Wir hatten das historisch seltene Glück, dass es in den vergangenen Jahrzehnten niemanden gab, der diese Freiheiten und demokratischen Verhältnisse wirklich leidenschaftlich abgelehnt oder gerade bedroht hätte. Doch nun sind sie da, die Kräfte rund um die AfD, die Wutbürger und andere Bewegungen des rechten Spektrums. Sie haben – formulieren wir es an dieser Stelle neutral – andere Ansichten und setzen andere Schwerpunkte als die große Mehrheit der Gesellschaft.
Diese Gruppierungen vertreten ihre Standpunkte laut und selbstsicher; ihnen ist nicht immer mit einem offenen Gespräch zu begegnen, denn dieses wird nicht selten verweigert. Dennoch macht unsere parlamentarische Demokratie immer noch einen stabilen und ungefährdeten Eindruck, was nicht zuletzt an unserem Grundgesetz und unserer Verfassung, in deren kluge Ausarbeitung auch die bitteren Lehren aus den Fehlern der Weimarer Zeit einflossen.
Wir leben also nicht mehr in friedlichen und ruhigen Zeiten, sondern bewegen uns seit einiger Zeit in einem dynamischeren gesellschaftlichen Umfeld, in dem um die Deutungshoheit und um Meinungsmehrheiten gestritten wird. Dies ist ein relativ neues Phänomen, das von der bislang stillen Mehrheit im Lande ein Umdenken und das Erlernen von neuen Verhaltensweisen fordert: Der Einzelne muss seine Stimme erheben zur Verteidigung von Freiheit, Toleranz und Demokratie. Auch im gesellschaftlichen Kollektiv müssen die kulturellen Praktiken des Diskurses und der fairen Diskussion wieder eingeübt werden.
Eine politische Diskussionskultur wie in den späten 1960er Jahren würde unserem Land gut zu Gesicht stehen. Wenn es möglich wäre, eine solche gesellschaftliche Bewegung ins Leben zu rufen, die sich aktiv für die Bewahrung der Demokratie und gesellschaftlicher Vielfalt einsetzt, bräuchten wir uns wirklich keine Sorgen mehr um unsere politische Zukunft zu machen. Solange dieses Feld jedoch den Populisten überlassen wird, gibt es keinen Anlass zur Entwarnung, selbst wenn unsere Zeit nicht mit den Weimarer Verhältnissen vergleichbar ist.
Autor: Andreas Wirsching, Berthold Kohler, Ulrich Wilhelm (Hg.)
Titel: „Weimarer Verhältnisse? — Historische Lektionen für unsere Demokratie“
Taschenbuch: 119 Seiten
Verlag: Reclam, Philipp, jun. GmbH, Verlag
ISBN-10: 3150111633
ISBN-13: 978-3150111635