Wunderbar! Wir haben den Fernseher verkauft, gehen nicht mehr ans Telefon, sondern versammeln uns fortan allabendlich im Wohnzimmer, setzen uns im Kreis in die Nähe des knisternden Kamins, und Opa, gemütlich in seinem Lehnstuhl sitzend, greift zu dem dicken Buch, schaut ins Inhaltsverzeichnis, zögert nur einen kleinen Augenblick und schlägt dann eine Seite auf und beginnt zu lesen.
Natürlich ist diese Geschichte nicht ganz wahr, aber so könnte es sich wirklich zutragen, wenn man diesen ansprechenden dicken Ziegelstein aus dem Anaconda-Verlag vor sich auf dem Tisch liegen sieht: Das große deutsche Novellenbuch, herausgegeben von Effi Biedrzynski. — Effi? Sofort denkt man an Fontanes bekanntesten Roman, aber nein: Hier geht es um Novellen und nicht um Romane.
Eine Novelle ist, seitdem Goethe diese Definition seinem Eckermann in die Feder diktiert hat, nichts Anderes „als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“. – Die Literaturwissenschaft geht dann doch noch ein paar Schritte weiter und versteht unter einer Novelle — in Abgrenzung zur Kurzgeschichte und zur Erzählung — jene literarische Gattung, die, dem Drama ähnlich, einen starken Bezug zur tatsächlichen Realität aufweist, dann jedoch eine extreme Abweichung von der alltäglichen Wahrscheinlichkeit als ein Geschehen beschreibt; die Novelle beschreibt also ein Geschehen und keinen Zustand (wie z. B. die Erzählung). Die Novelle zeichnet sich durch eine starke Zuspitzung der Geschichte aus; sie hat Tempo und dramatisiert den Stoff.
Doch wie sind hier nicht in einem literaturwissenschaftlichen Seminar, sondern wir wollen uns amüsieren und unterhalten lassen. Und genau hierfür scheint der vorliegende deutsche Novellenschatz bestens geeignet zu sein! Sind hier doch auf über 1.000 Seiten nicht weniger als 29 Novellen aus dem gesamten Bereich der deutschen Literaturgeschichte versammelt, von Goethe bis Grass, von Brentano bis Zweig, von Kleist bis Schnitzler!
Wenn also unser Großvater uns die Novelle vom Blonden Eckbert (von Ludwig Tieck) vorliest, dann braucht er für die 14 Seiten eine gute Stunde; für Das Marmorbild von Joseph von Eichendorff wird er schon einen ganzen Abend brauchen, und seine Lesungen des Tonio Krüger von Thomas Mann ziehen sich gleich über mehrere Abende einer Woche hin. Doch was macht das schon?! Ist es doch gemütlich, im Kreise der Lieben der Stimme des Großvaters zu lauschen und sich in die fiktiven Welten der deutschen Novellen entführen zu lassen.
Falls Sie keinen Großvater zur Hand haben, lesen Sie diese schönen, schaurigen und spannenden Geschichten, die in ihrer Kompaktheit und sprachlichen Brillanz zum Besten gehören, was die deutsche Literaturgeschichte hervorgebracht hat, einfach selbst: ganz allein im Kämmerlein, bei Kerzen- oder Lampenschein!
Autor: Effi Biedrzynski (Hg.)
Titel: „Das große deutsche Novellenbuch“
Gebundene Ausgabe: 1056 Seiten
Verlag: Anaconda Verlag
ISBN-10: 3730605836
ISBN-13: 978-3730605837