Peter Stamm: „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“

Das Motiv des Doppelgängers ist in der Literatur recht weit verbreitet. In Jean Pauls Siebenkäs, in den Elixieren des Teufels von E. T. A. Hoffmann oder in Erzählungen von Theodor Storm und in der Judenbuche von Annette Droste-Hülshoff haben wir es mit Doppelgängern zu tun. Wirft man einen Blick auf die englischsprachige Literatur, so fallen Namen wie Robert Louis Stevenson, Edgar Allen Poe oder natürlich Oscar Wilde mit seinem Bildnis des Dorian Gray.

In Peter Stamms neuem Roman haben wir es auch mit einem Doppelgänger zu tun, allerdings mit einem Doppelgänger der besonderen Art. Vor sechzehn Jahren hat der Ich-Erzähler einen Roman geschrieben über seine zerbrochene Liebe zu Magdalena. Es wurde sein erster und einziger Roman, denn danach gab es nichts mehr, worüber sich zu schreiben lohnte.

Auf seinen Lesereisen wird der Schriftsteller auch zu einer Lesung in seinem Heimatdorf eingeladen. Zunächst fürchtet er sich davor, auf alte Bekannte zu treffen, doch im Dorf hat sich vieles verändert, und im Publikum entdeckte er kein einziges bekanntes Gesicht. Als er nachts zu seinem Hotel zurückkehrt, klingelt er nach dem Rezeptionisten, damit dieser die Tür aufschließe: „Während er am Schloss herumhantierte, sah ich sein Gesicht neben der Spiegelung meines eigenen, aber erst als er mir die Tür aufhielt, erkannte ich, dass er ich selbst war.“

Damit beginnt sich eine seltsame Geschichte zu entwickeln, in der der Ich-Erzähler immer wieder auf seinen Doppelgänger trifft, ihm nachspioniert und ihn beobachtet. Stück für Stück muss er feststellen, dass dieser junge Mann genau dasselbe Leben führt, wie er selbst es vor vielen Jahren getan hat. Dieselbe Wohnung, dieselben Studentenjobs, dieselbe Liebesgeschichte.

Die Freundin des jungen Doppelgängers heißt Lena, eigentlich auch Magdalena, und mit Lena trifft sich der Schriftsteller. Er erzählt ihr seine Geschichte, also auch die ihres Freundes, und ihre Geschichte, die sich mit der Geschichte ihrer Doppelgängerin, der Magdalena des Schriftstellers, deckt.

Diese seltsame Mischung aus auktorialem Erzähler mit Nullfokalisierung und personalem Erzähler mit enger Fokalisierung zieht den Leser immer tiefer in die Verstrickungen und Überblendungen aus unterschiedlichen Zeitebenen. Der Text springt immer wieder vorwärts und rückwärts zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her. Durch diese bewusste Vermeidung einer linearen Erzählweise bleibt die Lektüre stets abwechslungsreich und spannend. Die Reflexionen des Erzählers verbinden die losen Teile und formen den Text zu einer vielschichtigen Geschichte, die den Leser bis zur letzten Seite fesselt.

Der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm ist für sein umfangreiches Erzählwerk bekannt; seine Erzählungen und Romane sind meistens weniger von einer rasanten Handlung geprägt als durch seine feine Beobachtungsgabe für die psychischen Prozesse seiner Figuren. Peter Stamm schafft es immer wieder, im scheinbar Gewöhnlichen das Besondere zu entdecken; nicht selten gelingt es ihm, den Leser durch unerwartete Wendungen der Handlung zu überraschen.

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt ist ein kurzer Roman, nur 156 Seiten lang, fast noch eine Erzählung. Doch es kommt bei Peter Stamm niemals auf den Umfang einer Geschichte an, denn er ist ein Meister der Verdichtung; wofür andere Autoren vierhundert, fünfhundert Seiten benötigen, das gelingt ihm mühelos auf 160 Seiten: die Schaffung einer fiktiven Welt, deren Tiefe und Ambivalenz authentisch wirkt.

 

 

Autor: Peter Stamm
Titel: „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“
Gebundene Ausgabe: 160 Seiten
Verlag: S. FISCHER
ISBN-10: 3103972598
ISBN-13: 978-3103972597