Eigentlich wollte er nie seine Autobiographie schreiben, zumindest nicht, bevor er nicht achtzig Jahre alt wäre. Er hielt sich einfach nicht für wichtig genug. Aber er hatte ein Leben gelebt, wie es am Ende des 18. Jahrhunderts kaum aufregender hätte sein könnte: aufgewachsen als Bauernsohn, studierte er zunächst in Leipzig Theologie, bis er sich 1781 heimlich auf den Weg nach Frankreich machte. Unterwegs wurde er von hessischen Werbern rekrutiert und an die Engländer verkauft, als Kanonenfutter für den Krieg in Nordamerika. Als Unteroffizier kehrte der am Fuß verletzte Soldat 1783 aus Kanada zurück und desertierte.
Schließlich hatte Johann Gottfried Seume dann doch noch seine Lebensgeschichte aufgeschrieben, als er bereits schwer krank war und merkte, dass er nicht mehr lange leben würde. Es ist ein relativ kurzes Manuskript, das die Geschichte eines Lebensreisenden erzählt, wie sie kaum spannender sein könnte. Weil sein erster Verleger Georg Joachim Göschen Angst vor der Zensur hatte, wurde der Text vor der Veröffentlichung noch einmal stark bereinigt und gekürzt; allzu freizügige Passagen wurden gestrichen.
Das Manuskript selbst wanderte durch die Hände vieler Sammler, zu denen auch unter anderen Stefan Zweig zählte, der es schließlich an den Schweizer Sammler Martin Bodmer verkaufte. Aus dessen Bibliotheca Bodmeriana stammt nun nach einer umfangreichen Editionsarbeit an den Original-Manuskripten Seumes die Textgrundlage dieser neuen, ungekürzten und kommentierten Ausgabe von Johann Gottfried Seumes Autobiographie Mein Leben, die von Dirk Sangmeister herausgegeben wurde. Dirk Sangmeister, Jahrgang 1965, ist Literaturwissenschaftler und Mitglied des Forschungszentrums Gotha der Universität Erfurt. Sangmeister beschäftigt sich seit langem mit Seume und hat bereits mehrere Publikationen über dessen Leben und Werk herausgegeben.
Bis sich Seume an die Aufzeichnungen seines Lebens machte, bedurfte es einiger äußerer Anstöße. Seume musste zunächst „sein Ende vor Augen haben, eher er sich dann doch noch entschloß, mit seiner Lebensgeschichte zumindest einen Anfang zu machen. Seume galt bereits im Winter 1808 als ein dem Tode geweihter Mann, dessen Ableben nach Meinung seiner Freunde täglich bevorzustehen schien — und auch er selbst hatte nur noch wenig Hoffnung“, schreibt Sangmeister in seinem aufschlussreichen Essay über Seumes Leben.
Am Ende starb Seume dann doch erst zwei Jahre später im Jahr 1810. Seine Aufzeichnungen waren nicht sehr umfangreich, jedoch sehr aufschlussreich, wenn man sie genau las. Die vorliegende kommentierte Edition gewährt uns nun einen tiefen Einblick in das Leben Seumes und in eine bewegte Zeit des Umbruchs und Aufbruchs in den deutschen Landen und Europa.
Mit Hilfe des ausführlichen Kommentars — er umfasst allein 128 Seiten, während der Originaltext 165 Seiten umfasst — hat der Leser nun erstmals die Gelegenheit, Seumes autobiographischen Haupttext vollständig und in aller Ausführlichkeit zu studieren. Eine Studienausgabe ist dieses Buch wohl in erster Linie, herausgegeben für eine literaturwissenschaftliche Leserschaft mit entsprechenden Vorkenntnissen. So naheliegend das ist, so schade ist es auf der anderen Seite; denn dieses prall gefüllte Leben eines begabten Bauernsohnes aus Sachsen-Anhalt, der tapfer auszog, um zu lernen, sich zu bilden und die Welt zu entdecken, liest sich über weite Strecken wie ein spannender Entwicklungsroman.
Anders als im Roman handelt es sich jedoch nicht um Fiktion, sondern um die Lebensbeschreibung eines Mannes des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Dabei ist sich Johann Gottfried Seume der Tücken eines autobiographischen Schreibens durchaus bewusst. Gleich am Anfang stellt er klar: „Das Mißliche einer Selbstbiographie kenne ich so gut als sonst irgend jemand, und ich halte mich nicht für wichtig genug, daß überhaupt mein Leben beschrieben werde. […] Ich erzähle also ehrlich offen, ohne mich zu schonen, und nicht selten mit dem Selbstgefühl inneren Werths und ohne den Vorwurf der Anmaßlichkeit oder die Krittler weiter zu fürchten […]. Wenn die Erzählung unterhält und vielleicht hier und da die Jugend belehrt und in guten Grundsätzen befestiget, so habe ich nicht umsonst gelebt und geschrieben.“
Seume hat, das kann man an dieser Stelle ohne Zweifel feststellen, nicht umsonst gelebt; denn sein spannender Lebensbericht wird nicht nur den jugendlichen Leser belehren und in seinen guten Grundsätzen befestigen, sondern auch alle anderen Leser durch die Farbigkeit seiner Sprache und das tempo seiner Lebensbeschreibung in den Bann ziehen.
Mein Leben von Johann Gottfried Seume liest sich wie ein Abenteuerroman, wie der Reisebericht einer lebenslangen Suche nach dem Neuen und Unbekannten. Es ist ein Stück deutscher Literaturgeschichte; ein lange Zeit verborgener Schatz, der nun endlich gehoben wurde und uns nun in einer schönen gebundenen Ausgabe, erschienen im Wallstein-Verlag, vorliegt.
Autor: Johann Gottfried Seume
Titel: „Mein Leben“
Gebundene Ausgabe: 479 Seiten
Verlag: Wallstein
ISBN-10: 3835331825
ISBN-13: 978-3835331822