Ewald Frie: „Die Geschichte der Welt“

Manche Leute trauen sich was! — Vor einiger Zeit landete ein neuer Wälzer auf dem Tisch des Rezensenten, der im renommierten C. H. Beck-Verlag erschienen ist: Die Geschichte der Welt von Ewald Frie, illustriert von Sophia Martineck. Was ist das denn?! – Das war die erste und spontane Reaktion auf den Titel: eine Weltgeschichte also, so so.

Ewald Frie ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen, und er ist Vater von zwei Kindern. Beides zusammengenommen, inspirierte ihn zu diesem Buch. Es ist eine Geschichte der Welt auf 464 Seiten. Eine Weltgeschichte für Jung und Alt, die dank der zahlreichen Illustrationen auch einem jungen Publikum gefallen soll, dabei jedoch zugleich den Ansprüchen eines Erwachsenen an Form und Inhalt genügen soll.

Wie schreibt man solch ein Buch? Und warum? Gibt es nicht schon genug illustrierte Weltgeschichten auf dem Buchmarkt? Braucht es wirklich einen weiteren Versuch, die Welt zu erklären? Ist nicht schon längst alles gesagt, was es hierzu zu sagen gibt?

Ewald Frie macht in seiner Weltgeschichte einen ganz entscheidenden Unterschied, denn sein Ansatz ist neu, denn bislang wurden Weltgeschichten in aller Regel immer aus einer eurozentrischen Perspektive erzählt: Europa als Mittelpunkt der Welt, als der maßgebliche Kontinent, was Entwicklungen betrifft, und als der einzig wichtige Kontinent, was die Geschichten betrifft. Fremde Kulturen außerhalb Europas wurden nur kurz erwähnt, und meist begann die eigentliche Geschichtsschreibung erst mit Herodot, dem ersten Historiographen unter der griechischen Sonne.

Einem solch eurozentrischen Weltbild fühlt man sich heute nicht mehr verpflichtet; es gehört vielmehr zum guten Ton, den europäischen Blick in den Wissenschaften durch einen globalen und eurokritischen Blick zu ersetzen. Es ist der Geist unserer Zeit, das Eigene nicht mehr als das Maßgebliche und Interessanteste zu betrachten, sondern im Sinne einer historical correctness die außereuropäischen Hochkulturen zu würdigen und ihnen auf diese Weise sogar eine größere Bedeutung zu verleihen als der eigenen.

In diesem Geschichtsbuch wird — vielleicht erstmalig für Kinder und Jugendliche? — versucht, eine globale und multiperspektivische Geschichte der Welt zu erzählen.

Auch wenn das Buch 464 Seiten hat, ist dies für eine umfassende Weltgeschichte natürlich lächerlich wenig. Zwangsläufig muss eine möglichst repräsentative Auswahl an beschriebenen Ereignissen, geschichtlichen Knoten- und Wendepunkten, getroffen werden; der Verfasser steht vor der schwierigen Aufgabe, nur die wichtigsten Strömungen der weltgeschichtlichen Entwicklungen aufzuzeigen sowie die bedeutendsten internationalen Verflechtungen zu erfassen. Viel mehr findet in einer solchen einbändigen Weltgeschichte kaum Platz.

Wird man damit der Komplexität und der riesigen Zeitspanne gerecht, die hier zu erfassen sind? — Das Ergebnis wirkt auf den ersten Blick überzeugend: Ewald Frie gelingt es nach einer kurzen Einführung entlang einer Kette von 19 Orten der Welt ihre unterschiedlichen Geschichten zu erzählen, die sich immer wieder kreuzen und überschneiden, nicht selten kriegerisch und oftmals im kulturellen Austausch und im Handel. Diese Orte der Welt fügt er zu einer Weltgeschichte der Orte zusammen, denn diese geschichtlichen Orte im Raum erzählen ihre je einzelnen Geschichten als eine Reise durch die Zeit.

Raum und Zeit sind die Koordinaten dieser historischen Reise um die Welt. Ewald Frie ist ein guter Erzähler, der seine Leser und Zuhörer von der ersten Seite an zu fesseln vermag. Wie macht er das? Indem er mit offenen Karten spielt und sich nicht in Details verheddert. Es sind die großen Linien, die sich, durch den Raum gezogen, im Unsichtbaren verbinden, es sind auch die ganz konkreten Linien der Handelsrouten und der geographischen Begebenheiten, die zum roten Faden seiner Erzählungen werden. Der Spannungsbogen der Erzählungen wird hierbei nicht selten zum die Kontinente und Zeiten überspannenden Bogen der kulturellen Verbundenheit.

Die zahlreichen Illustrationen von Sophia Martineck und die schönen Karten von Peter Palm tragen nicht nur zur Anschaulichkeit des Inhalts bei, sondern laden zum Träumen und zum Nachdenken ein. Zusammen mit diesem leicht lesbaren Text, der seine Leichtigkeit trotz einer langen und sehr fundamentalen Recherchearbeit bewahren konnte, wird hieraus ein schönes und aktuelles Geschichtsbuch, das den Leser mühelos auf den Forschungsstand von 2017 bringt.

In seinem Nachwort erzählt der Verfasser von seiner Arbeit an diesem Buch. Die Idee zu einem Geschichtsbuch für eine jüngere Leserschaft lieferte der Verlag C. H. Beck. Das daraufhin von Frie vorgelegte Exposé sah noch ganz anders aus als das fertige Buch. Erst beim Lesen und Recherchieren und dann noch einmal beim Schreiben selbst merkte er, dass seine ursprüngliche Konzeption so gar nicht funktionieren konnte, und er entschied sich für die jetzt im Buch vorliegende Gliederung einer Weltgeschichte der Orte. Das Schreiben wurde zu einem aufregenden Prozess permanenter Modifizierung und mancher überraschenden Entdeckung.

Am Ende steht eine neue Art, die Geschichte der Welt zu erzählen. Frie schreibt: „Die Weltgeschichte ist keine einfache Abfolge von Gesellschaften oder Kulturen. Die Welt ist voller Menschen mit unterschiedlichen Geschichten, die miteinander verwoben sind. Weil das so ist, können wir die eigene Geschichte immer nur zusammen mit anderen Geschichten haben — es sei denn, wir führten künstliche Trennungen nach Nationen, Kulturen und Gesellschaften ein, die es nur selten in reiner und abgegrenzter Form gegeben hat. Weil das so ist, können wir die Handelsgeschichte vom Indischen Ozean aus erzählen, die Stadtgeschichte von China und Indien aus, die Reformationsgeschichte von Nordamerika, die Revolutionsgeschichte von Haiti und die Industrialisierungsgeschichte von den USA aus. Liebgewonnene Teile der europazentrierten Weltgeschichte erscheinen so in neuen Zusammenhängen.“

Nehmen Sie sich dieses Buch zur Hand, lesen Sie es mit Ihren Kindern oder auch allein, und Sie sehen die Geschichte der Welt wie die der eigenen europäischen Kulturen in einem neuen Licht. Mit anderen Worten: Dieses Buch ist der gelungene Versuch einer Neu-Erzählung der Geschichte der Welt!

 

Autor: Ewald Frie
Titel: „Die Geschichte der Welt“
Gebundene Ausgabe: 464 Seiten
Verlag: C.H.Beck
ISBN-10: 3406711693
ISBN-13: 978-3406711695