Wer keinen direkten Zugang zur arabischen Welt hat und auch nicht über persönliche Bekanntschaften verfügt, die ihm tiefergehende Erkenntnisse ermöglichen über die großen Zusammenhänge und die kleinen Realitäten jener gar nicht so fernen Region des Nahen Ostens, der ist angewiesen auf das durch die Medien transportierte Bild jener fremden Welt.
Aus Mangel an Alternativen sind wir geneigt, den öffentlichen Narrativen zu folgen und jene Länder der arabischen Welt als chaotisch, zerfallen und zerbrochen anzusehen. Die Phänomene des Zusammenbruchs von staatlicher Ordnung und des rechtlichen Vakuums sind in vielen dieser Länder des Maghreb und des Nahen Ostens zu beobachten. In Zeiten des Bürgerkriegs und der Revolutionen brechen Gesellschaften auseinander, gehen Rechtstaatlichkeit und Sicherheit verloren und werden anarchische Rahmenbedingungen geschaffen für Willkür und Terror.
Kriegsberichterstatter ist ein Beruf, den man sich aussucht. Niemand sucht freiwillig die Nähe von Krieg, Vertreibung und Terror, wenn er nicht durch diese Freisetzung von Urgewalten menschlicher Grausamkeit und Verzweiflung auf die eine oder andere Art angezogen wird — sei es aus Faszination, sei es aus dem verständlichen Impuls heraus, die Welt auf das Unrecht hinzuweisen, was hier tausendfach geschieht, oder sei es, um gegen die eigene Ohnmacht und die Lethargie der Massen anzuschreiben und Bericht zu erstatten von den Gräueltaten, die Menschen aneinander begehen.
Scott Anderson ist Kriegsberichterstatter und Schriftsteller. Er ist Amerikaner, und seit vielen Jahren reist er durch die arabische Welt und berichtet von den Kriegsschauplätzen in dieser Region. Jetzt ist in der edition suhrkamp sein Buch Zerbrochene Länder erschienen, in dem er uns auf über 260 Seiten und in 37 Kapiteln seinen Einblick in diese verstörende Welt des Krieges und der Gewalt gibt.
Libyen, Ägypten, Syrien, Irak und Kurdistan sin die Länder, die immer wieder bereist und aus denen berichtet wird. Scott Anderson versucht den Prozess der Zusammenbrüche in fünf großen Zeitabschnitten zu fassen und die Entwicklungen nachzuzeichnen: die Ursprünge (1972-2003), den Irakkrieg (2003-2011) und den Arabischen Frühling (2011-2014), den Aufstieg des IS (2014-2015) und schließlich den Exodus (2015-2016).
Zusammen mit dem Fotografen Paolo Pellegrin reist er kreuz und quer durch den Nahen Osten, und anhand der Geschichten von sechs Menschen aus dieser Region lässt er uns an deren Schicksalen teilhaben und vermittelt uns auf diese Weise einen subjektiven Zugang zu jener chaotischen und aus den Fugen geratenen Welt.
Wie könnte es anders sein, als dass der Zugang zum Verständnis des Unverständlichen über den Umweg eines persönlichen Schicksals führt, das uns erzählt wird, sei es, von dem Betroffenen selbst oder von einem Erzähler. Solch einen Erzähler finden wir in Scott Anderson, und seine Berichte werden durch die bewegenden Schwarzweiß-Fotos von Paolo Pellegrin erst richtig anschaulich. Auf diese Weise legen die beiden Autoren ein anklagendes Buch vor, welches eine seltsame Mischung aus Road Novel und Geschichtsbuch, aus Bildband und politischer Berichterstattung ist, das man erst aus den Händen legen kann, wenn man mit ihm fertig ist.
Diese Berichte aus einer zerbrochenen Region, deren Brüche sich auch in den Seelen ihrer Menschen widerspiegeln, sind berührend und aufwühlend. Sie versuchen die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklungen von ihren Ursprüngen bis zum heutigen Tag zu verdeutlichen, und gerade diese Zwangsläufigkeit und Ausweglosigkeit des Krieges lässt den Leser nach der Lektüre ohnmächtig und wütend zurück. Wir sind Zuschauer eines beispiellosen Zusammenbruches, dessen Auswirkungen und Folgen wir noch lange zu spüren bekommen werden.
Autor: Scott Anderson
Titel: „Zerbrochene Länder — Wie die arabische Welt aus den Fugen geriet“
Broschiert: 264 Seiten
Verlag: Suhrkamp Verlag
ISBN-10: 351807332X
ISBN-13: 978-3518073322