Irgendwann hat man aufgehört, mit uns Erwachsenen zu reden, wie man mit Erwachsenen redet. Irgendwann wurden wir zu Kindern degradiert, zu dummen kleinen Menschen, die überall Gefahr laufen, das Falsche zu tun und damit sich und Anderen zu schaden. Irgendwann meinte der Staat, uns entmündigen und uns wieder Vorschriften machen zu müssen, vor allem um uns vor uns selbst zu schützen. Und irgendwann fing es an, dass sich jeder vom Anderen potenziell bedroht und beleidigt fühlte, wenn er nicht in allen Facetten seiner Individualität von allen anerkannt und geschützt wurde.
Robert Pfaller legt mit Erwachsenensprache ein Buch vor, das aus acht Abschnitten besteht. Der wichtigste, wortgewaltigste und am stärksten aufwühlende Abschnitt ist der erste — jene 50 Seiten über die „Erwachsenensprache“ und ihr Verschwinden.
Manchmal braucht es nur noch einen kleinen Anstoß, um ein Fass zum Überlaufen zu bringen, von dem wir gar nicht wussten, dass es schon so voll gewesen war. Bei Robert Pfaller ist es ein Kinofilm für Erwachsene, den er auf einem Langstreckenflug in die USA im Bordkino anschauen möchte. Gleich zu Beginn wird er freundlich, aber bestimmt, darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem Film um einen Film für Erwachsene handelt, in dem es auch Szenen mit adult language zu sehen gibt.
Eigentlich würde man von einem Erwachsenen-Film erwarten, dass in ihm auch Erwachsene mitspielen, die sich untereinander erwachsen unterhalten. Doch warum muss man ausdrücklich darauf hinweisen? Gilt es etwa die heutigen Erwachsenen besonders zu schützen vor einer Konfrontation mit Erwachsenensprache? In was für einer Zeit leben wir eigentlich?!
Pfaller findet schnell die Antwort in dem kulturellen Gefälle zwischen Europa und den USA, in denen es schon immer prüder zuging als bei uns. Sogleich stößt die Empörung über diesen Warnhinweis vor dem Start des Films einen Denkprozess an, der letztlich in den Recherchen und der Niederschrift dieses Buches seine Ausführung findet.
Die zentrale These, die Pfallers zeitkritischer Studie zugrunde liegt, lautet: „Die Postmoderne ist […] nichts anderes als die Ideologie des Neoliberalismus“. Eigentlich ist diese These nichts Besonderes, und wir hätten es alle wissen müssen. Doch vielleicht war es auch genau andersrum, und der Neoliberalismus war nach dem Zusammenbruch des Kommunismus im Osten als Erster zur Stelle und hat den Menschen in Ost und West sein Gedankengut als plausibelste Interpretationsmöglichkeit vorgeschlagen?
Doch egal, wie herum man die Geschichte auch betrachtet: Der Zusammenhang von neoliberaler Dynamik und postmoderner Beliebigkeit ist im Nachhinein betrachtet so wahrscheinlich wie erschreckend. Während sich die Postmoderne als eine Epoche des anything goes kleidete, war und ist sie bis heute in Wirklichkeit nur das Spielfeld eines neoliberalen Fundamentalismus. Davon ausgehend, zieht Pfaller seine Argumentationslinien in alle Richtungen, und am Ende macht alles plötzlich einen ganz neuen Sinn.
Zunächst geht der Autor zurück in jene Zeit der Aufklärung und deren Ausgang, der Französischen Revolution. Das aufstrebende Bürgertum hatte nicht nur im Zuge der revolutionären Umbrüche neue Rechte, einen neuen Status sowie ein neues Selbstbewusstsein erworben, sondern auch eine neue Form des öffentlichen Umgangs etabliert, den man unter dem Begriff der „citoyenneté“, der „mündigen Bürgerlichkeit“, zusammenfassen kann. Diese Übereinkunft der Etablierung einer neuen allgemeinen Klasse aller Bürger, „die allen anderen, ungeachtet ihrer Herkunft und Zugehörigkeit, zugänglich sein sollte“, führte nicht nur zu einer völlig neuen Chancengleichheit, sondern auch zu einem respektvolleren Umgang mit- und untereinander.
Natürlich stand hinter dieser Tendenz der Bourgeoisie, alle anderen Klassen zu vereinnahmen und sie ebenfalls zu Bürgern zu machen, auch eine politische Absicht und eine bestimmte Ethik: „Wer Mensch und mithin Bürger sein wollte, musste zunächst vertragsfähig sein und also lesen und schreiben können.“ Die großen Alphabetisierungswellen im 19. Jahrhundert verfolgten auch das Interesse, allen Bürgern nicht nur das Lesen und Schreiben beizubringen, sondern sie damit auch vertragsfähig und mündig zu machen. Denn wer die bürgerlichen Techniken des Lesens und Schreibens beherrscht, wird automatisch auch zu einem vertragsfähigen Kunden.
Vertragsfähigkeit war demnach aus bürgerlicher Sicht vor allem die Grundvoraussetzung für einen gelingenden Warenaustausch. Mit dem Erfolg der bürgerlichen Revolutionen wurde nicht nur die universelle Gültigkeit der Identität von Menschen und Bürgern eingefordert, sondern auch das bürgerliche Wirtschaftssystem, der Kapitalismus, zu einem Exportschlager. In den Kolonien und in den zivilisierten Staaten wurde die bourgeoise Produktionsweise als das Erfolgsmodell des Wirtschaftens übernommen.
Im Umkehrschluss brachte jene Bildungsoffensive jedoch mit sich, dass grundsätzlich jeder Bürger dieselbe Behandlung und denselben Respekt im öffentlichen Raum erfuhr, ohne Ansehen seiner Person und seiner persönlichen Neigungen und Interessen. Mann wie Frau, Armer wie Reicher sollten sich also grundsätzlich am öffentlichen Diskurs beteiligen können — eine Forderung, die im 19. Jahrhundert nur sehr eingeschränkt galt, jedoch in den demokratischen Gesellschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus als durchgesetzt gelten kann.
Im öffentlichen Raum verhielt man sich dementsprechend neutral und zeigte ein „betont unpersönliches, an eleganten Formen geschultes Auftreten“. Die Fähigkeit, Distanz zu dulden und sie auch einzufordern, galt als Grundvoraussetzung für einen solchen Diskurs auf Augenhöhe. „Gerade diese Fähigkeit, im öffentlichen Raum das eigene, vermeintlich authentische Selbst hintanzuhalten, war die entscheidende Tugend mündiger Bürgerlichkeit.“
Das alles ist Vergangenheit. Mit der Postmoderne und dem neuen Leitbild einer neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die sich im Zuge einer sich im rasenden Tempo vollziehenden umfassenden Globalisierung unter das Diktat der Ökonomie begeben hat, werden diese Fähigkeiten eines mündigen Umgangs bewusst ausgehöhlt und zerschlagen.
„Dagegen ist die Unterwerfung des öffentlichen Raumes unter die Kriterien persönlicher Empfindlichkeit — die Fähigkeit, sich verletzt zu fühlen, und den zwang, dies sofort kundzutun — die stärkste Ressource zum Abbau von bürgerlicher Teilhabe und Politikfähigkeit.“ Das neoliberale Umerziehungsprogramm hat es in den letzten Jahrzehnten geschafft, die Gesellschaft zu entsolidarisieren, und es hat seine Arbeit sehr gründlich gemacht.
Heutzutage sind wir durch die Gender-Diskussionen, durch die Auflagen der political correctness und die Anforderungen jeder beliebigen Minderheit, auf ihre je eigenen Befindlichkeiten einzugehen, in unserem solidarischen und gesamtgesellschaftlichen Handeln gelähmt. Diese Lähmung ist nicht etwa das Resultat einer aus den jeweiligen Interessengruppen entsprungenen Forderung nach der Berücksichtigung ihrer individuellen Rechte, sondern das Resultat einer neoliberalen Aufweichung und Entsolidarisierung der Bürger. In deren Folge wird auch dem Bürgertum seine Mündigkeit abgesprochen, es wird kleingeredet und infantilisiert, wobei die Medien einen großen Anteil an dieser Entmündigung haben.
Noch mal von vorn: Das ideologische Fundament der citoyenneté, der Gedanke der Gleichheit aller Menschen, wurde im Zeitalter der sogenannten Postmoderne aufgegeben und durch den Primat der Diversität ersetzt. Aus gleichberechtigten Bürgern mit gleichen Rechten (und gleichen Interessen!) wurden plötzlich einzelne Interessengruppen, die je nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung nun ihre Partikularinteressen vertreten und sich zutiefst beleidigt oder verletzt fühlen, wenn ihre Interessen nicht zuallererst berücksichtigt werden.
Früher war der öffentliche Raum ein Raum einer gegenseitigen Rücksichtnahme, ein Raum, in dem ein jeder eine gewisse Zurückhaltung geübt hatte, um den Anderen eine möglichst konfliktfreie Teilhabe an diesem Raum zu ermöglichen: Zurückhaltung und Rücksichtnahme prägten das öffentliche Leben.
Heute pocht jeder auf seine eigenen Individual- oder Gruppen-Interessen und fühlt sich schnell angegriffen, in seinen ureigensten Rechten verletzt oder in der Entfaltung seiner Individualität eingeschränkt. Dadurch ist jedoch nicht nur kein vernünftiges Miteinander mehr möglich, sondern es entsteht auch ein Klima, das durch die Angst vor potenziellen Gefahren und Einschränkungen meiner eigenen Freiheiten vergiftet ist.
Faszinierend an Robert Pfallers Studie ist ihr Ansatz, dass all diese Entwicklungen nicht etwa einem neuen Zeitgeist entsprechen, der aus sich selbst heraus diese Tendenzen einer Paternalisierung der staatlichen Organe und einer gleichzeitigen Selbst-Infantilisierung der Gesellschaft mit sich bringen; sondern dass all diese Entwicklungen einer neoliberalen Strategie folgen, die eine völlige Entsolidarisierung und Individualisierung der Gesellschaft zum Ziel hat.
Das gesellschaftliche Klima der Angst führt zu solchen Absurditäten wie die digitale Selbstüberwachung durch Smartphones, Gesundheits-Apps und das bereitwillige Aushändigen von allen persönlichen Daten an große internationale Konzerne (und staatliche Kontrollorgane) oder der weitverbreiteten Bereitschaft, dem sofortigen infantilen Reflex zu folgen und auf sein „gutes Recht“ zu pochen, sobald man sich beleidigt, angegriffen oder missverstanden fühlt.
Das war mal anders, aber das war damals schließlich auch eine Zeit, in der es auch noch gesellschaftliche Interessenvertreter wie Gewerkschaften gab, die eine Machtposition innehatten, die den Interessenverbänden der Arbeitgeber noch Paroli bieten konnten. Heute gibt es keine Solidarität mehr, und jeder müsste seine eigenen Interessen vertreten, ganz wie es in der Zeit vor den bürgerlichen Revolutionen üblich war.
Wenn jeder für sich alleine kämpfen muss, ist der gemeinsame Widerstand gegen die neoliberalen Kräfte gebrochen, und genau dies war der Plan. Selbst die Politik hat ihre früheren Einflussmöglichkeiten verloren und sich auf die Felder der Tagespolitik und der Meinungsforschung zurückgezogen. Das Fachliche überlässt man den Lobbyisten, man mauschelt in Großen Koalitionen vor sich hin, tagt hinter verschlossenen Türen und versucht, die eigene Unfähigkeit im Rampenlicht der medialen Öffentlichkeit schönzureden. Derweil hat sich die internationale Ökonomie mit ihren globalen Waren- und Datenströmen sowie den dazu passenden Offshore-Finanzströmen längst von diesem Theater abgewandt und macht in der Zwischenzeit business as usual.
Das Hauptaktionsfeld für die Politik sind heute die vielen Fördermaßnahmen für alle und jeden. Hierbei gilt das gnadenlose Konkurrenz-Prinzip: Gefördert wird immer die schwächste Gruppe, alle anderen müssen sehen, wo sie bleiben. Aktuell werden die Flüchtlinge gefördert; wer als Langzeitarbeitsloser nur ein klein wenig besser dasteht, muss sehen, wo er bleibt.
Ein solch kurzsichtiges Förderprinzip hilft immer nur ganz Wenigen und lässt die Mehrheit im Regen stehen; vor allem aber fördert es die weitere Entsolidarisierung der Bevölkerung. Dabei kosten all die Arbeitskreise, Komitees und Gremien, die sich mit der Sicherung von Minderheitsrechten befassen, eine Menge Geld, das woanders gut angelegt wäre, wenn man auf diese unzähligen Sonderbehandlungen verzichten würde.
Eine ganz besonders wichtige Aufgabe bei der Wahrung von Minderheitsrechten liegt in unserer heutigen Medienwelt natürlich in der richtigen Sprachregelung. Jede Minderheit besteht auf ihren Anspruch auf Aufmerksamkeit und somit auch auf Erwähnung im öffentlichen Raum. Viele neue Sprachregelungen, wie das „Binnen-I“ oder die Verweiblichung von akademischen Titeln (Professorin, Doktorin) oder auch der Rückzug auf neutrale Formulierungen (Studierende), führen nicht nur teilweise zu einer umständlichen und gestelzten Sprache, sondern kosten auch eine Menge Geld, weil Dokumente überarbeitet und Publikationen in gender-gerechter Sprache neu formuliert werden müssen.
Vor allem kosten diese neuen Anforderungen Zeit und Kraft, die die Politik ansonsten für andere Aufgaben einsetzen könnte; vielleicht so wie in längst vergangenen Zeiten — zur Verfolgung von allgemeinen Interessen aller Bürger und der Wahrung der gesetzlichen Regeln und Rahmenbedingungen einer Sozialen Marktwirtschaft.
Doch um Sprache und in diesem Fall: um Erwachsenensprache, geht es Robert Pfaller in diesem Buch. Gerade auch durch das Medium der Sprache schafft es der Neoliberalismus, die Gesellschaft zu spalten. „So wird unter dem Anschein von Emanzipation das Gegenteil bewerkstelligt: Sowohl Solidarität als auch Mündigkeit werden verhindert; Bestrebungen nach Gleichheit werden auf unbedeutendere, kleinere Problemfelder umgelenkt“.
Postmoderne Symbol- und Pseudopolitiken haben sich ganz der Emanzipation von Minderheiten verschrieben und erreichen am Ende nur die Spaltung und Entsolidarisierung der Gesellschaft als Ganzes. Was ist damit gewonnen? — Nichts. Aber der globalisierte Kapitalismus hat dadurch ein Hauptproblem gelöst: die Beseitigung der politischen Kraft einer solidarischen und geeinten Gesellschaft, die vehement ihre Interessen gegen wachsende soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit sowie gegen Privatisierung und den Primat der Ökonomie verteidigt.
Wie immer, so sind auch hier die USA unsere Vorreiter, und wir Europäer reiten ihnen auch hier beflissen nach, weil ihr Weg uns alternativlos erscheint. In den USA sind die „family values“ die oberste Richtschnur der Sprachzensur; traditionell und puritanisch und vor allem sexualfeindlich ist diese Orientierung, die zwar von den christlich-konservativen Kreisen ausgerufen wurden, aber interessanterweise gerade von den Pseudolinken dankbar übernommen wurden. Im Sinne einer vermeintlich feministischen Sprachpolitik und im Zuge einer politisch-korrekten Sprachregelung an den Universitäten und darüber hinaus wurden wir Zeugen eines Umstrukturierungsprozesses in vielen gesellschaftlichen Bereichen.
Es entbehrt nicht einer gewissen ungewollten (und vor allem tragischen) Komik, dass sich gerade die Linken hierzulande jener typisch amerikanischen und konservativen „family values“ annehmen und sie auf unsere freiheitlichen und fortschrittlichen Gesellschaften mit einem Eifer anwenden, der teilweise an Fanatismus grenzt.
Aktuell sind es die #MeToo-Bewegung und die aus ihr resultierende Empörung über sexuellen Missbrauch von beruflichen Positionen in der Glamour-Industrie, die sich weltweit über die sozialen Medien ausbreitet. Wir machen alle Moden mit, springen auf jeden Zug auf, der vorbeifährt, nur um teilzuhaben an einem letzten Rest von Gemeinschaftsgefühl. Es ist die erschreckende Armut im Geiste unserer von entsolidarisierten und vereinzelten Menschen bevölkerten Gesellschaft, die jene zu solchen digitalen Gesten der Verbrüderung (und Verschwesterung) animiert, die immer nur kurzzeitig ein Gefühl von Solidarität vermitteln und die Sehnsucht des Einzelnen nach dem Aufgehen in einer Masse von Gleichgesinnten befriedigen können.
So fallen wir immer wieder auf diese Politik der kleinen Ablenkungen herein, die der Neoliberalismus seit Jahrzehnten betreibt, um von dem eigentlichen Problem abzulenken, dass durch ihn selbst erst erzeugt wird: die wachsende soziale Ungleichheit. In den USA ist die Schere zwischen Arm und Reich heute so groß wie zuletzt 1929, im Jahr der Weltwirtschaftskrise. Aber auch bei uns wird auf allen politischen Ebenen schnell das Thema gewechselt, wenn es auf die wachsende Ungleichheit zu sprechen kommt.
Das sei natürlich ein Riesenproblem und eine vordringliche Aufgabe der Politik, so heißt es dann mit betroffener Miene, doch wenn es um konkrete Schritte zu ihrer Beseitigung geht, wird schnell irgendeine Minderheit ins Rampenlicht gezerrt, deren Rechte man unbedingt zunächst einmal stärken müsse. Damit ist die Kuh vom Eis und der Politiker fein raus.
Jede partikulare Interessenvertretung von Minderheiten-Rechten bedeutet im Umkehrschluss die Vernachlässigung der Rechte aller anderen Bürger auf Chancengleichheit und anständige Bezahlung. Dass wir dies schon gar nicht mehr sehen, liegt vielleicht daran, dass wir alle irgendeiner Minderheit in der Gesellschaft angehören und das Gefühl uns antreibt, übervorteilt werden zu können. Denn es ist kein Verlass mehr auf die Kontinuität staatlicher Unterstützung, und die Sicherheit des Arbeitsplatzes gehört auch zu den Annehmlichkeiten längst vergangener Zeiten.
Überhaupt wird eigentlich nur noch Pseudopolitik gemacht: Es wird nicht mehr das eigentliche Übel der sozialen Ungleichheit angepackt, sondern man beschäftigt sich lieber intensiv mit Empfindlichkeitspolitiken, verhängt Rauchverbote, erfindet Ernährungsampeln und Warnhinweise aller Art. Indem man aber auf jede nur mögliche Gefahr in jedem nur denkbaren Lebensbereich hinweisen möchte, unterwirft man aber den öffentlichen Raum den Kriterien privater Ansprüche.
Während wir uns als Erwachsene fast schon daran gewöhnt haben, dass mit uns gesprochen wird wie mit dummen kleinen Kindern, die ständig Gefahr laufen, eine Dummheit zu machen, wenn man ihnen nicht sagt, dass dies oder jenes gefährlich ist, gehört heutzutage noch eine weitere Sache zu einer gelingenden Kommunikation: der politisch korrekte Sprachgebrauch. Damit sich bloß niemand verbal auf den Fuß getreten fühlt, müssen wir unsere Worte auf die Goldwaage legen; die Kommunikation wird anstrengender, weil wir neben der inhaltlichen Formulierung auch noch die richtige Wortwahl berücksichtigen müssen, oder besser: die falschen Worte vermeiden.
Wie schnell wird eine Äußerung missverstanden, wie schnell fühlt sich jemand durch einen Ausdruck, vielleicht sogar durch die Betonung oder ein zögerndes Aussprechen verletzt. Leider hat die politisch korrekte Sprache aber noch eine ganz andere Funktion: Sie hilft uns, uns den Anderen gegenüber hervorzutun und uns positiv abzuheben:
„Politisch korrekter Sprachgebrauch ist — ebenso wie Charity, ethical Fashion, ökologisches Einkaufen und veganes Kochen — vor allem und zu allererst ein Distinktionskapital; eine Waffe, mit deren Hilfe man mehr oder weniger Gleichgestellte wirksam zu Ungleichen machen kann.“
Politisch korrekte Sprache ist die neue Waffe der Mittelstandsangehörigen, um sich in den Verteilungskämpfen Vorteile zu verschaffen und dadurch den eigenen Platz in der Mitte zu verteidigen. Sie ist auch ein Phänomen der zwanghaften und geradezu exhibitionistischen Präsentation unserer Identitätsmerkmale, die sich nicht nur aus diversen Votes und Likes zusammensetzt, sondern eben auch aus jenen Distinktionsmerkmalen der richtigen (d.h.: politisch korrekten) Sprache, der gesunden Ernährung, des nachhaltigen Einkaufens und des passenden Partners.
Besonders an den Universitäten bemerkt Pfaller den Zwang einer korrekten Sprache und eine zunehmende Infantilisierung der Studierenden durch die den Universitäten auferlegten Gleichstellungsanforderungen. Früher war die Universität ein Ort kontroverser Ansichten, die heiß diskutiert wurden, nicht selten mit harten Bandagen. Früher war es kein Verbrechen, eine andere Meinung zu haben und diese Ansichten auch coram publico zu vertreten. Heute muss man vorsichtig sein, weil sich mancher Studierender in seinen Empfindungen verletzt fühlen könnte.
„Wer innerhalb der universitären Lehre auf Empfindlichkeiten Rücksicht nimmt […], der respektiert sie [die Studierenden] nicht, sondern verweigert ihnen genau jenen Respekt, den sie als erwachsene Menschen — und zukünftige Führungskräfte — verdienen.“ Wenn jemand sich durch eine scharfe Aussage beleidigt fühlt und dies kundtut, so endet in diesem Moment der Diskurs. Denn die Befindlichkeit Einzelner lenkt die Aufmerksamkeit von der Sachebene auf die Ebene der Empfindungen und Gefühle. Daher geht es immer öfter auch an Universitäten so zu wie im Kindergarten; die Infantilisierung führt zu einem Ende der kontroversen wissenschaftlichen Diskussionen an den Hochschulen und darüber hinaus.
In seinen kritischen Studien über die Erwachsenensprache und ihr Verschwinden kommt Robert Pfaller zu einer pessimistischen Einschätzung, was den mentalen Zustand unserer Gesellschaft anbelangt. Wir befinden uns offensichtlich mitten in einem Infantilisierungsprozess, der nichts Anderes zum Ziel hat als die völlige Entmündigung des mündigen Bürgers. Mit anderen Worten: Wir verblöden immer mehr.
Wenn es nicht gelingt, diese postmoderne Abwärtsbewegung umzukehren, indem wir wieder Biotope schaffen, in denen Erwachsene sich wie Erwachsene verhalten und ebenso miteinander sprechen können, werden wir immer weiter entsolidarisiert, vereinzelt und entmündigt werden. Wir werden auf unsere Funktion als Kunden reduziert, die den globalen Warenstrom in Fluss halten und sich willfährig den Regeln des neoliberalen Systems unterwerfen.
Man liest dieses Buch nicht ohne emotionale Anteilnahme. Die Texte sind mit einer heißen Wut geschrieben, und diese Kraft überträgt sich auch ungebremst auf den Leser. Robert Pfallers Erwachsenensprache ist ein Buch, das wachrüttelt und motiviert. Es ist ein feuriges Plädoyer für mehr Mut in der Öffentlichkeit, für klare Worte und vor allem für eine erwachsene Sprache. Es ist der Aufruf zum Widerstand gegen alle Entmündigungsversuche und zur Rückeroberung des öffentlichen Raumes und der eigenen Sprache.
Autor: Robert Pfaller
Titel: „Erwachsenensprache — Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur“
Broschiert: 256 Seiten
Verlag: FISCHER Taschenbuch
ISBN-10: 3596298776
ISBN-13: 978-3596298778