Das Jahr 1930 war der Anfang vom Ende der Weimarer Republik, jenes vielleicht aufgrund seiner Rahmenbedingungen von Beginn an zum Scheitern verurteilten Versuches einer ersten demokratischen und parlamentarischen Gesellschaftsordnung auf deutschem Boden.
Man muss den Titel genau lesen: Knott spricht nicht von Wegen in die Erschöpfung, sondern von Wegen in der Erschöpfung. Die Erschöpfung ist also schon längst da und allgegenwärtig.
Die Zeit nach der Weltwirtschaftskrise 1929 mit ihren explodierenden Arbeitslosenzahlen, der Notverordnungen, den Straßenkämpfen zwischen Rot und Schwarz und den immer größeren Wahlerfolgen der Nationalsozialisten war geprägt von einer allgemeinen Unsicherheit der Verhältnisse und der persönlichen Orientierungslosigkeit vieler Menschen.
Wie gingen die Künstler mit dieser Situation um? Welche Strategien entwickelten sie in jenen unsicheren Zeiten und wie hat sich ihr künstlerisches Schaffen unter den veränderten Verhältnisse gewandelt? Marie Luise Knott folgt in vier Essays den Spuren nach, die sie im Leben und Werk von vier Künstlern aufspürt, die exemplarisch für ihre Künstlergeneration stehen: Erwin Piscator, Karl Wolfskehl, Bertolt Brecht und Paul Klee. „Diese Personen repräsentieren nichts als sich selbst; ihre Auswahl ist in der Sache kontingent, sie folgt keiner Notwendigkeit und hat doch ihre eigene Melodie.“ schreibt die Autorin in ihrer Einleitung.
Diese gemeinsame Melodie ist das traurige Lied vom „Abhandenkommen von Welt, von unmerklich gebliebenen Verschiebungen und von den vielen kleinen Vertreibungen“, die es bereits im Jahr 1930 gab. Der Ton wurde schärfer, nicht nur in der Politik, sondern auch im täglichen Umgang.
Marie Luise Knott unternimmt in diesem Buch ein Experiment. Von Walter Benjamin stammte die These, das wahre Bild der Vergangenheit husche vorbei und es gelte, sich immer neu einer Erinnerung zu bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitze. „Das Buch stellt die Frage, ob man sich des Vergangenen wieder und anders bemächtigen kann, wenn man die Zeit fixiert wie in einem Film-Still.“
Indem man die Stills betrachtet und in ihnen die Zeit immer langsamer werden lässt bis zum Erstarren, könnte es gelingen, einen neuen und tieferen Zugang zur Wahrheit jener Vergangenheit zu erschließen. So versuchen diese vier Essays, „Momente des Jahres 1930 aus der Kontinuität der Geschichte herauszulösen.“
Erwin Piscator stellte sich ganz in den Dienst der Kommunistischen Partei und machte sein Theater zur Bühne für Agitation und den Kampf gegen den Nationalsozialismus. Auch Bertolt Brecht ging in jener Zeit mit seinen Lehrstücken einen großen Schritt in Richtung einer Radikalisierung des Theaters. Der Schriftsteller, Übersetzer und Sammler Karl Wolfskehl konstatierte bereits früh den kommenden Niedergang der geistigen Elite und sah sich schon 1930 mit dem Zusammenbruch seines intellektuellen Netzwerks konfrontiert. Paul Klee schließlich reagierte auf die zunehmende Barbarisierung der Verhältnisse mit einer Neuorientierung seines bildnerischen Komponierens.
„Das Neue, das in der Kunst aufschien, infizierte sich an den barbarisierenden Verhältnissen. […] Der Sieg der Nazis war die Zerstörung einer Zukunft, die Zerstörung all dessen, was im Jahr 1930, in der Erschöpfung der Moderne, neu versucht und bedacht wurde“, scheibt die Autorin.
Die letzten Jahre der Weimarer Republik waren auch geprägt von einer Auflösungstendenz des Individuellen. Der Einzelne trat zurück hinter den Massen, den Ansprüchen der Partei oder der jeweiligen Klasse, der er angehörte. Aus dem Individuum wurde ein Dividuum, aus dem Unteilbaren einer, der und dem zugeteilt werden kann und muss. Wenn das Allgemeine, die Masse, den Weg bestimmt, so darf der Einzelne nicht mehr auf sein individuelles Recht hoffen — eine Erfahrung, die viele in jener Zeit am eigenen Leibe machen mussten.
Brecht versucht diese Dividualisierung des Einzelnen in seinen Lehrstücken, wie Die Maßnahme oder dem Badener Lehrstück vom Einverständnis, für sein Theater fruchtbar zu machen. Aber auch Paul Klee unterscheidet Individuum und Dividuum: Anders als bei Brecht, wo die Einzelnen durch die kapitalistische Gesellschaft in Dividuen (Zugeteilte) zu mutieren drohen, „ist Klees Unterscheidung zwischen Individuum und Dividuum von der Naturbeobachtung geprägt.“ Klee versteht die Struktur (Dividuum) als teilbar, und man können ohne Weiteres auch Teile von ihr weglassen, ohne die Struktur als Ganzes zu gefährden. Andererseits ist das Individuum nicht nur unteilbar, sondern es dürfe ihm auch nichts hinzugefügt werden, denn es sei ja als solches schon ein vollkommenes Geschöpf.
Die vier Essays zeugen von Knotts großem Feingefühl und ihrer Fähigkeit, mit Hilfe jener Film-Stills tief in die Zeit und das Denken dieser vier Repräsentanten einzutauchen. Insofern darf ihr „Experiment“ als gelungen betrachtet werden. Der Leser sollte jedoch etwas an Vorwissen mitbringen, um diese Essays auch mit gewinn lesen zu können. Dann geben sie einen faszinierenden Einblick in jene Dazwischenzeit, als das demokratische System der Weimarer Republik immer mehr ins Schlingern geriet und gleichzeitig der nationalsozialistische Siegeszug an Fahrt aufnahm.
Autor: Marie Luise Knott
Titel: „Dazwischenzeiten — 1930. Wege in der Erschöpfung der Moderne“
Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
ISBN-10: 3957574722
ISBN-13: 978-3957574725