Olga Rinke wird in der Kaiserzeit geboren, wächst im Breslau des späten 19. Jahrhunderts in einem armen Umfeld auf, verliert schon in jungen Jahren beide Eltern, die an Fleckfieber erkranken, und wird von der Großmutter in einem Dorf in Pommern aufgezogen; die Großmutter findet, dass Olga einen slawischen Einschlag habe, und sie liebt das Mädchen nicht, sondern behandelt es schlecht. Doch Olga ist ehrgeizig, will mehr erreichen als die anderen Kinder, und sie schafft es, dass sie an der Höheren Mädchenschule aufgenommen wird; später gelingt ihr sogar der Sprung in das staatliche Lehrerinnenseminar in Posen. Sie wird Lehrerin und bleibt in der Provinz, erst in dem kleinen Dorf in Pommern und später in der Nähe von Tilsit im Memelland.
In dem pommerschen Dorf lebt auch Herbert, ein junger Bursche mit glänzenden Aussichten, denn der Vater besitzt einen Gutshof und eine Zuckerfabrik, die er einmal übernehmen soll. Doch Herbert hat andere Pläne, träumt von fernen Reisen und davon, dass er Bedeutungsvolles für die Menschheit leisten will.
Olga lernt Herbert beim Spielen mit ihrer Freundin Viktoria kennen. Er ist ihr Bruder, und je mehr sich die beiden anfreunden, desto kühler wird das Verhältnis zu Viktoria. Als Olga für die Aufnahme ins Lehrerinnenseminar lernt, besucht sie Herbert immer wieder. Sie reden viel über ihre Träume, kommen sich näher, lieben sich. Dann geht Herbert nach Deutsch-Südwest begeistert als Reiter am Krieg gegen die Hereros teil, Olga beginnt ihre Ausbildung zur Lehrerin in Posen.
Die Liebe zwischen Olga und Herbert wird durch den Wunsch seiner Eltern, eine gute Partie zu machen, belastet. Es ist eine heimliche Liebe, die sich nicht öffentlich zeigen und auch nicht in Form einer Heirat legitimieren darf. Und doch ist es eine starke, lebenslange Liebe, die beide verbindet. Herbert ist auch nach seiner Rückkehr aus Deutsch-Südwest viel auf Reisen; er begeistert sich für die Idee, die Nordwest-Passage zu durchqueren und träumt von einer Expedition ins arktische Eis. Hier läge die Zukunft des Deutschen Reiches: der kurze Seeweg zu den Kolonien in China und Ozeanien. Auf einer Test-Expedition ins Nordostland bei Spitzbergen will er seine Mannschaft zusammenschweißen, und so bricht er im Spätherbst auf, zu spät, weil der Winter früher kommt, als erwartet.
Herbert gilt als verschollen, die beiden werden sich niemals wiedersehen, doch für Olga bleibt Herbert ein Leben lang ihr „Mann“; ihm gilt ihr erster Gedanke am Morgen und der letzte Gruß am Abend, wie sie ihm in einem der vielen Briefe schreiben wird. Ihre Briefe nach Tromsö werden stets „poste restante“ (später „postlagernd“) geschrieben, denn es gibt ja keine Adresse, wohin man die Briefe ins Eis schicken könnte.
Bernhard Schlink ist ein Meister in der Wahl der richtigen erzählerischen Flughöhe. Seine Beschreibungen liefern genügend Details, um sich ein Bild von der jeweiligen Szene zu machen; alles, was er weglässt, wird durch die angeregte Fantasie des Lesers ergänzt. Auf diese Weise sind seine Romane von einer großen Dichte geprägt, noch stärker seine Erzählungen. Was sich leicht liest, als wäre es nur ein schneller Bericht der Ereignisse, ist das Ergebnis eines treffsicheren und zielgenauen Auswahlprozesses beim Schreiben, mag dieser nun bewusst ablaufen oder nicht.
Die Lebensgeschichte von Olga Rinke, die der Autor hier erzählt, spannt einen weiten Bogen vom späten 19. Jahrhundert bis in die heutige Zeit. Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil wird aus einer neutralen Erzählinstanz Olgas Leben erzählt. Im zweiten Teil setzt dann Ferdinand, ein auktorialer Erzähler, die Geschichte fort. Er hat die ältere Olga als Näherin in seinem Elternhaus kennengelernt, das war in den 1950er Jahren. Hier war Olga schon taub, aber sie konnte gut von den Lippen lesen und sich mühelos mit ihm unterhalten, wenn sie sich gegenübersaßen.
Ferdinand verbringt viel Zeit mit Olga. Auch als er längst schon ausgezogen war und sie nicht mehr als Näherin arbeiten konnte und musste, trafen sie sich regelmäßig. Sie erzählte ihm aus ihrem Leben, von Herbert, ihrer großen Liebe, der immer eine Sehnsucht nach dem Nichts, nach der unendlichen Weite der Landschaften hatte und der im arktischen Eis auf einer Expedition verschollen war, das war vor dem Ersten Weltkrieg.
Olga und Ferdinand verband eine enge Freundschaft, fast so etwas wie Liebe, und eine intime Vertrautheit. Olga ist nun alt, weit über die neunzig Jahre schon, doch ihre Gesundheit scheint stabil. Doch dann gibt es in einer Nacht einen Sprengstoffanschlag auf das Bismarck-Denkmal; Olga war in direkter Nähe gewesen, wurde schwer verletzt und starb wenig später an ihren Verletzungen; Ferdinand kann sie noch sehen, mit ihr sprechen, ihre Hände halten, Doch mit ihrem Tod endet für Ferdinand diese enge Verbundenheit, wie er sie nicht einmal mit seinen Eltern kannte, von einem Tag auf den anderen.
Ferdinands Leben verlief weiter in sicheren Bahnen; er arbeitete als Ministerialbeamter, hatte Frau und Kinder. Die Kinder waren seit langem aus dem Haus, kurz vor ihrer Pensionierung kam sie bei einem Autounfall ums Leben. Plötzlich war er allein mit den Träumen von all den gemeinsamen Reisen, die sie nach der Pensionierung unternehmen wollten. Doch er richtete sich ein in seinem neuen Leben, so gut es eben ging.
Eines der gemeinsamen Hobbies mit seiner Frau waren Flohmärkte. Während sie lieber ohne Ziel durch die Gänge schlenderte, zog es Ferdinand immer zu den Antiquariaten und hier besonders zu den Karton mit alten Postkarten. Er sammelte nicht systematisch, sondern kaufte einfach, was ihm gefiel. Am interessantesten fand er jene Karten, die auch auf der Rückseite spannende oder lustige Geschichten erzählten. Mit den Jahren wuchs seine Sammlung alter Postkarten auf eine stattliche Menge an.
Auch wenn Olga nicht mehr lebte, blieb sie ein Teil seines Lebens. Auf einsamen Spaziergängen war es so, als liefen sie zusammen, und wenn es um wichtige Fragen ging, hörte er immer wieder ihre Stimme, ihre klare und direkte Art, die Dinge beim Namen zu nennen und die richtigen Lösungen zu finden. Selbst an Herbert, den er ja nur aus Olgas Erzählungen kannte, wurde er immer wieder erinnert.
So las er eines Tages in der Zeitung von einer Expedition, die sich auf die Suche nach den Spuren von Herberts Nordostland-Expedition machte. Zur gleichen Zeit fand er in seiner Postkartensammlung eine Karte an einen Adressaten in Tromsö — poste restante. Ferdinand wurde neugierig, erinnerte sich an Olgas Briefe, die sie an Herbert, wie sie ihm erzählte, ebenfalls immer „poste restante“ geschickt hatte. Er recherchiert und fand ein Antiquariat in Tromsö, in dem es weitere Postkarten dieser Art zu geben schien.
Olgas Briefe an Herbert bilden den dritten und letzten Teil dieser bewegenden Lebensgeschichte. Ferdinand hatte sie in jenem Antiquariat in Tromsö entdeckt und sich nach Hause schicken lassen. Die Lektüre dieser Briefe vervollständigte nicht nur das Bild, welches er von Olgas Leben hatte; die Briefe enthüllten auch das eine und andere überraschende Geheimnis.
Bernhard Schlink ist ein wunderbarer Erzähler; das zeigen nicht nur seine berühmten Romane Der Vorleser, Die Heimkehr, mehrere Kriminalromane oder auch die zahlreichen Bände mit Erzählungen. Auch Olga ist ein Meisterstück seiner Erzählkunst. Allerdings fällt der dritte Teil des Romans durch die chronologische Aneinanderreihung von Olgas Briefen gegenüber den ersten beiden Teilen mit ihrer durchweg präsenten Erzählstimme ab und wirkt dadurch etwas ungelenk. Natürlich werden die entscheidenden Fakten und der Schlüssel zu Olgas Geheimnis in diesen Briefen geliefert; doch die Form der Sichtung der belastenden Unterlagen erinnert ein wenig zu sehr an das Instrumentarium von Schlinks langjährigem beruflichen Betätigungsfeld als Jurist. Mit anderen Worten: Den dritten Teil des Romans hat eher der Jurist als der Schriftsteller geschrieben
Gleichwohl gehört Olga ganz ohne Zweifel zu den besten und interessantesten Büchern der Saison, denn es zeigt den langen Lebensweg einer tapferen Frau, die weit über ihren Tod hinaus in das Leben anderer Menschen wirkt und dadurch ihrem Leben wie dem der Anderen Sinn verleiht. Ein fesselndes und ergreifendes Buch. Ein Buch, das wie aus der Zeit gefallen zu sein scheint, weil sein Stoff so anders, so angenehm inaktuell wie zeitlos ist. Ein Buch, das ganz ohne die heute so beliebte exzessive Schilderung von Befindlichkeiten und Selbstbespiegelungen auskommt und gerade deshalb viel mehr im Leser zum Klingen bringt.
Autor: Bernhard Schlink
Titel: „Olga“
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Verlag: Diogenes
ISBN-10: 3257070152
ISBN-13: 978-3257070156