Joachim Ringelnatz: „Wie ein Spatz am Alexanderplatz — Berliner Orte“

Mit Ringelnatz geht es mir immer so wie mit einem alten Bekannten: Man trifft ihn zufällig auf der Straße, seit Jahren hat man sich nicht gesehen, und doch hat man schon nach ein, zwei Sätzen wieder an die alte Verbundenheit angeschlossen, scherzt und lacht miteinander und verabredet sich spontan auf ein Bierchen am selben Abend. Vieles von Ringelnatz kennt man ja schon, schließlich gehören seine Gedichte mittlerweile zurecht zu den „Klassikern“…

In diesem schicken kleinen Büchlein, erschienen im be.bra-Verlag, geht es aber explizit um „Berliner Orte“, die in seinen Gedichten besungen werden. Geboren 1883 in Wurzen bei Leipzig, lebte er lange Zeit in München, jener „dümmsten Stadt der Welt“, wie es in einem seiner Gedichte heißt, bevor er dann 1930 nach mehreren kürzeren Aufenthalten endlich nach Berlin umzog.

Seine Liebe zu Berlin kann Ringelnatz nur schwer verbergen; immer wieder bricht es aus ihm raus, am liebsten hätte er es ständig um sich: „Das wär mein Wunsch: Es anzuziehn / Wie eine schöne Hose.“ Und so geht es in diesem Buch alleine um Berlin, um Berliner Orte und Menschen, am Tage und bei Nacht, und Ringelnatz´ Gedichte portraitieren den Moloch Berlin in all seinen Facetten: von den dunklen Straßenecken im Osten bis zu den Villen im Westen, von den Arbeiterkiezen im Norden bis zu den feineren Gegenden im Süden.

Wie durch kleine Gucklöcher schauen wir mit jedem Gedicht in eine vergangene Zeit und versuchen uns ein Bild zu machen von jener temporeichen, aufstrebenden und ermüdenden, Chancen eröffnenden und Hoffnungen zerstörenden Großstadt, von jenem Epizentrum der Moderne, von dem Leben in den Goldenen und den Grauen Zwanziger Jahren.

Besonders schön ist, dass der Verlag das Roman-Fragment „…liner Roma…“ in diesen Sammelband aufgenommen hat. Wer es noch nicht kennt, der wird hier erstmals dem Prosaisten Ringelnatz begegnen. Zu jener Zeit war Berlin eine vibrierende Metropole und die Welt wartete auf eine literarische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Großstadt. „…liner Roma…“, 1924 erschienen, darf durchaus als legendärer Vorläufer von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz gelten. Mit seinem sozialkritischen Roman-Fragment hatte Ringelnatz einen Ton vorgegeben, der fünf Jahre später von Döblin in seiner Geschichte vom Franz Biberkopf ausgebaut und natürlich auch mit Hilfe seiner ausgefeilten Montagetechnik perfektioniert wurde; aber Ringelnatz war früher am Hauptstadtroman dran als Döblin.

Ringelnatz verspricht immer eine leichte und heitere Lektüre, jedoch offenbaren seine Texte oftmals viel tiefer liegende Wahrheiten, und nicht selten decken sie schonungslos soziale Ungerechtigkeiten und andere Missstände auf. So überkommt den Leser immer wieder ein bitteres Lachen, das ihn sauer aufstoßen lässt, wenn es ihm nicht sogar gleich ganz den Atem verschlägt. So darf — so muss Satire sein! Nicht nur zum Lachen, sondern zum Nachdenken. Ringelnatz war ein Meister der wenigen Worte, und was er sagte bzw. was er schrieb, das saß.

Als wäre dies alles nicht schon genug, hat der Verlag auch noch weder Kosten noch Mühen gescheut und diese Ringelnatz-Anthologie mit einer Fülle von zeitgenössischen Schwarzweiß-Fotos ausgestattet. Somit steht einer Zeitreise ins turbulente Berlin der Weimarer Republik nichts mehr im Wege! Viel Spaß!

 

 

Autor: Joachim Ringelnatz
Titel: „Wie ein Spatz am Alexanderplatz — Berliner Orte“
Taschenbuch: 144 Seiten
Verlag: bebra verlag
ISBN-10: 3898091414
ISBN-13: 978-3898091411