Robert Gernhardt: „Das große Lesebuch“

Man sagte mir neulich, dass es tatsächlich Leute geben soll, die Robert Gernhardt noch nicht kennen. Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen, hier ist Entwicklungshilfe gefragt! Doch wo soll man anfangen? Welcher Zugang zu seinem Werk ist der richtige, der am besten geeignete?

Man macht sicherlich nichts verkehrt, wenn man sich hierfür eines jüngst erschienenen „großen Lesebuches“ bedient, welches in der schönen Taschenbuchreihe Fischer Klassik erhältlich ist. Dass es sich bei Robert Gernhardt um einen „Klassiker“ im besten Sinne handelt, steht außer Frage. Aber schauen wir jetzt einmal genauer hin: Was finden wir in diesem Lesebuch?

Der ganze Gernhardt, also die Gesamtausgabe, ist es natürlich nicht, auf den wartet die Welt ja noch. Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach wird sein Werk verwahrt, das immerhin an die 40.000 Seiten umfasst inklusive aller Brunnenhefte, Skizzen, Notizen und allem Zipp und Zapp. — Also noch eine Menge Arbeit für Literaturwissenschaftler mit einem Sinn für Humor!

Die Buchreihe Fischer Klassik hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur die ganze Bandbreite deutschsprachiger Romane, Erzählungen oder Lyrik der „Klassiker“ in ansprechender Form und zeitgemäßer Edition zu präsentieren, sondern mit jenen „Lesebüchern“ auch einen repräsentativen Querschnitt durch das jeweilige Werk oder die literarische Epoche zu bieten. Hierbei ist eine chronologische Gliederung der Texte und Exzerpte in den meisten Fällen naheliegend, so auch in diesem Fall.

Das große Lesebuch spannt den Bogen über den gesamten Schaffenszeitraum des Autors, beginnend mit den ersten Veröffentlichungen aus dem Jahr 1955 bis zu den letzten Aufzeichnungen 2006. Zusammen bilden diese Texte ein über 500 Seiten starkes Paket literarischen Frohsinns. Doch eigentlich ist die Bezeichnung Lesebuch nicht ganz richtig, denn neben Lyrik und Prosa findet man auch viele kleine Skizzen und hübsche Bildergeschichten.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Gernhardt-Neuling nach einer kursorischen Lektüre dieses Lesebuches bereits derart angefixt ist, dass er immer wieder nach neuem „Stoff“ verlangen wird. Diesen findet er zuhauf im Fischer-Verlag: Robert Gernhardts Gedichtbände, Romane, Erzählungen und Autobiographisches sind heute sowohl als Hardcover als auch im Taschenbuch bei Fischer erschienen und verfügbar.

Jedoch zum ersten Kennenlernen dieses (leider 2006 viel zu früh verstorbenen) Meisters der Kurz- und Unsinns-Prosa ist vielleicht am besten eine solche Anthologie geeignet wie dieses Lesebuch. Die chronologische Anordnung der Texte bietet auch die Möglichkeit, Entwicklungen nachzuverfolgen, stilistisch und inhaltlich. Allein die Fülle spiegelt seine nie versiegende Kreativität wider und reflektiert seinen lebenslangen Spaß an dem gekonnten Spiel mit der Sprache.

Robert Gernhardts Texte waren immer intelligent, gewitzt, gekonnt, und immer trafen sie ins Schwarze und den deutschen Spießer so unerwartet heftig in die Seite, dass er trotz allen Getroffen-Seins zunächst noch ein wenig mitlachen musste, bevor er merkte, dass es in diesen bissig-bösen Texten vor allem um ihn ging. Sein Humor ist zeitlos im besten Sinne. So gehört er in die erste Reihe, in die 1. Liga der Humoristen.

Als Gründungsmitglied der Neuen Frankfurter Schule rund um die Satirezeitschrift Pardon — und später in der Titanic — machte er zusammen mit anderen Schriftsteller- und Zeichner-Kollegen wie F. W. Bernstein, Eckhard Henscheid, Chlodwig Poth, Hans Traxler und F. K. Waechter seit 1979 den Politikern das Leben schwer und den Leser ein bisschen leichter.

In der Rückschau können wir heute über vieles schmunzeln, was seinerzeit manchmal gar nicht so witzig war, wie es gemeint war. Doch Robert Gernhardt war immer einer, der genau hingeschaut hat, ein Chronist unserer bundesrepublikanischen Verhältnisse aus dem Blickwinkel der 68er. Gernhardt war Frankfurter durch und durch, er liebte diese Stadt, das Klein- und das Weltstädtische, das Internationale wie das Banale.

Wer also Robert Gernhardt kennenlernen oder wer sich eine hübsche und kostengünstige Anthologie ausgewählter Texte zulegen möchte, ist mit diesem Lesebuch bestens beraten. Wer noch mehr über den Menschen hinter den Texten erfahren möchte, lese zusätzlich noch das ebenfalls soeben erschienene Buch Der kleine Gernhardt — Was war, was bleibt von A bis Z!

 

 

Autor: Kristina Maidt-Zinke (Hg.), Robert Gernhardt
Titel: „Das große Lesebuch“
Taschenbuch: 512 Seiten
Verlag: FISCHER Taschenbuch
ISBN-10: 359690658X
ISBN-13: 978-3596906581