Über eines kann sich die Weimarer Republik wirklich nicht beklagen: mangelnde Aufmerksamkeit. Geradezu inflationär hat sich die Beschäftigung mit ihr in nahezu allen medialen Formaten in den vergangenen Jahren intensiviert. Von allen Dächern wird wieder das schrille Lied von der Vergleichbarkeit unserer Verhältnisse mit denen am Ende der Weimarer Republik geträllert, das jetzt vielleicht stimmiger klingt als je zuvor und doch so falsch ist wie immer. Viele schauen mit glänzenden Augen zurück auf die „Goldenen Zwanziger“, sind besoffen vom eigenen Schwärmen und der Sehnsucht nach einer vermeintlich besseren Zeit. Anderen wieder schlottern die Knie, seitdem die AfD im Bundestag sitzt, weil sie das an die windstille Zeit vor 1933 erinnert, als man auch schon einmal die tödliche Gefahr, die vom Faschismus ausging, nicht wahrnahm.
Besonders wenn man, wie der Rezensent, in Berlin lebt und arbeitet, ist es nahezu unvermeidlich, dass man mit Relikten der Weimarer Zeit konfrontiert wird. Die 1920er Jahre sind in Berlin trotz aller Zerstörungen durch Krieg und Stadtplanung und trotz aller Veränderungen nach der Wende immer noch im Stadtbild zu finden. Ganz zu schweigen von dem Tempo und dem „Geist“ jener Zeit, der gerade in Berlin so oft beschworen wird, aus Mangel an zeitgenössischen Alternativen. So gerne, ach so gern möchte man immer noch an diese „goldenen Zeiten“ anschließen, in denen Berlin wirklich eine Metropole von Weltrang war und das Prädikat „Weltstadt“ verdiente. In jener 1920er Jahren war Berlin zweifellos das absolute Epizentrum, das seine Schockwellen in alle Welt ausstrahlte. Umso seltsamer erscheint es dem heutigen Berliner, dass jene große Ausstellung, deren Katalog hier besprochen werden soll, nicht in Berlin präsentiert wird, sondern im fernen Frankfurt am Main.
Was sich seit vielen Jahren in Form von Veranstaltungen, Ausstellungen und Filmen, schlauen Sachbüchern und unzähligen „Wiederentdeckungen“ als mehr und minder erfolgreiche Versuche einer historischen Aufarbeitung und umfassenden Bewältigung des Phänomens Weimarer Republik darstellt, wird jetzt durch eine weitere Ausstellung bereichert, die es zurzeit in der Frankfurter Schirn zu sehen gibt: Glanz und Elend in der Weimarer Republik.
Der vorliegende Katalog zur Ausstellung wird von der Kuratorin der Schirn, Ingrid Pfeiffer, herausgegeben. In ihm meldet sich eine illustre Schar von Kunsthistorikern und anderen Wissenschaftlern zu Wort, um das Phänomen der Weimarer Republik von möglichst vielen Seiten zu beleuchten.
Doch wie nähert man sich einem solch komplexen Thema wie dem Glanz und Elend in der Weimarer Republik? Was ist zunächst damit gemeint? Geht es ausschließlich um Kunst? Oder sind mit diesem Glanz und Elend nicht auch die Kultur, die Gesellschaft und die Politik, die Massenmedien und die Massenbewegungen gemeint? — Natürlich.
Die Kunst als Spiegel der Zeit, als Medium der Reflexion gesellschaftlicher Strömungen und sozialer Verhältnisse, wird in dieser wirklich außerordentlichen und bemerkenswerten Ausstellung in einer Vielfalt und einem Umfang präsentiert, wie lange nicht mehr. Bereits ein flüchtiges Durchblättern des Katalogs macht deutlich, dass es sich um eine Ausstellung internationalen Ranges handelt. Man darf also davon ausgehen, dass jene Besucher, die das Glück haben, den echten Exponaten in der Frankfurter Schirn gegenüberzutreten, entsprechend beeindruckt sein werden. Alle anderen müssen sich mit dem Katalog „begnügen“, wobei diese Beschränkung keinen großen Verlust darstellen muss, vielleicht sogar das Gegenteil.
Denn die hochkarätig besetzte Liste der Autoren, beginnend mit der Kuratorin selbst und sich weiter fortsetzend mit internationalen Fachleuten zu den verschiedenen Fachgebieten, bürgt für die Qualität der Beiträge, die sich nicht nur mit dem Spannungsfeld zwischen Kunst und Politik beschäftigen sondern auch die in jener Zeit neu entstehende Massenkultur behandeln, die Neue Frau und ihre Stellung in der Gesellschaft, den freieren Umgang mit Sexualität und Homosexualität, die Literatur und andere Kunstformen betrachten oder die Arbeitsweise der Künstlerinnen und Künstler in den 1920er Jahren beschreiben.
Diese 300 Seiten starke Publikation ist im renommierten Hirmer-Verlag erschienen. So wird es kaum überraschen, dass sowohl die Reproduktionen als auch die gesamte Gestaltung und Fertigung des Buches von bester Qualität sind, die auch den vermeintlich relativ hohen Kaufpreis von knapp fünfzig Euro rechtfertigen.
Wenn man diese Publikation in ihrer Komplexität und Multimedialität nicht nur als ein Derivat der realen Ausstellung versteht, sondern sich mit ihr auf eine imaginäre, von zahlreichen zeitgenössischen Künstlern illustrierte Reise in die turbulenten 1920er Jahre einlässt, wird man den größten Nutzen aus diesem Buch ziehen. Am Ende wird man ein mosaikartiges Gesamtpanorama der Weimarer Republik mit ihren Glanz- und ihren Schattenseiten vor sich sehen. Dieses Bild wird viel komplexer und detailgenauer sein als jeder verklärende und pauschalisierende Rückblick auf eine vermeintlich bessere und goldene Zeit.
Autor: Ingrid Pfeiffer (Hg.)
Titel: „Glanz und Elend in der Weimarer Republik“
Gebundene Ausgabe: 300 Seiten
Verlag: Hirmer
ISBN-10: 3777429325
ISBN-13: 978-3777429328