Hanns-Josef Ortheil: „Der Stift und das Papier“

Der autobiographische Roman Der Stift und das Schreiben von Hanns-Josef Ortheil ist im besten Sinne ein Entwicklungsroman. In diesem Buch erzählt der Autor von seinem Weg zum Schreiben. Es ist kein leichter Weg gewesen. Als Ortheil kaum drei Jahre alt war, hörte er plötzlich auf zu sprechen. Er passte sich auf diese Weise dem Verhalten seiner Mutter an, die sich nach einer weiteren Fehlgeburt zurückzog und verstummte. Fortan wurde mit Hilfe von Zetteln kommuniziert — für über drei Jahre.

Wie die Welt für den kleinen Hanns-Josef ausgesehen haben muss, kann man sich nur schwer vorstellen. Sie bestand vor allem aus der klassischen Musik der väterlichen Plattensammlung, dem Klavierspiel der verstummten Mutter und den vielen Stimmen und den verwirrenden Sprachfetzen der Leute, die der kleine Junge auf der Straße aufnahm. Zuhause zieht er sich oft in seine eigene Welt und in seine eigene Sprache zurück; er gibt den Dinge Bezeichnungen, die nicht mit den „normalen“ Begriffen zusammenpassen.

Die Familie wohnt in Köln, und in den Ferien geht es immer in das Haus im Westerwald. Dort steht auch bis heute die kleine Jagdhütte des Vaters, die für das Kind und seine Entwicklung noch große Bedeutung haben wird.

Als der Junge in die Schule kommt, werden die durch das fehlende Sprechen entstandenen Defizite schnell offensichtlich. Nur schwer kann der Junge dem Unterricht folgen, sein Sprachverständnis ist langsam, zurückgeblieben, und er wird schnell zum Außenseiter und zum schulischen Problemfall.

Der Vater ist Geodät, ein Kartograph und Landvermesser, ein sehr strukturierter Mensch. Die ersten Sommerferien verbringen die Ortheils nicht in Köln, sondern wieder in ihrem Landhaus tief im Westerwald. Der Vater hat eine Idee. Sein Sohn liebt wie er die Natur des Westerwalds, und auf langen Spaziergängen sammeln die beiden „Beobachtungen“; so beginnt schon bald in dieser kleinen Jagdhütte das Abenteuer der „Schreibschule“, die zur entscheidenden Wende im Leben des Jungen und zu seiner Entwicklung beitragen wird.

Auf dem Pauspapier, das der Vater für seine beruflichen Zeichnungen verwendet, macht das Kind die ersten Schreibversuche. Die „Schreibschule“ findet zunächst immer in der Jagdhütte statt; stark ritualisiert ist dieses Lernen: immer am selben Platz, immer dieselbe Art von Papier und Stiften, immer leise klassische Musik von Vaters Plattenspieler im Hintergrund. Die Texte werden von Anfang an nach Rubriken geordnet; ein Archiv entsteht.

Dieses Archiv dient dem heute 66-Jährigen als Erinnerungsort. Es gibt diese kleine Hütte auch heute noch, nach fast 60 Jahren, und ein Großteil des vorliegenden Romans wurde in ihr geschrieben. Der Roman beschreibt akribisch diesen langen Aufstieg des Kindes aus einem Zustand völliger Illiteralität über die ersten Schritte bis zu seinen ersten schriftstellerischen Erfolgen.

Wenn man, wie Hanns-Josef Ortheil in diesem Buch, in die Vergangenheit schaut, in Erinnerungen schwelgt und das Gewesene zu rekonstruieren versucht, so schaut man immer wie durch einen halbtransparenten Spiegel in diese Vergangenheit. Man sieht das Geschehen und gleichzeitig sieht man sich selbst in der Jetztzeit, wie man diese Vergangenheit reflektiert. Auf diese Weise ist der Blick zurück immer auch ein Blick auf die Gegenwart, und das Schauen und Erinnern der Vergangenheit immer eine retrospektiv-reflexive Tätigkeit.

Dieser Roman ist ein gelungenes Beispiel für eine solche reflexive Retrospektion, die gleichzeitig immer auch eine Introspektion, ein Schauen in die eigene Seele ist. Wer war ich als das Kind, das da schreibt? Wie habe ich mich gefühlt und was habe ich gefühlt? Ortheil ist ein Meister dieser speziellen Technik des Erinnerns, und dank seiner vielen Aufzeichnungen und Beschreibungen, die in seinem Archiv gesammelt sind, kann er auch heute noch ganz genau memorieren, was vor vielen Jahrzehnten an einem bestimmten Tag besonders und bemerkenswert war.

Dieser Blick zurück in die Vergangenheit wird immer auch leicht überblendet mit dem Blick auf den Autor heute und in seiner gegenwärtigen Verfassung. Dieser Blick zurück zeigt, wie einem verstummten Kind die Worte immer mehr im Kopf herumschwirren, den Kessel zum Brodeln und schließlich zum Überlaufen bringen, wie es dann, nachdem endlich mit dem Schreiben das richtige Ventil gefunden wurde, alles in einem unaufhörlichen Strom aus ihm heraussprudelt.

Der Roman lässt uns Zeugen dieser eruptiven Entwicklung werden. Es ist faszinierend zu beobachten, wie das Kind Schritt für Schritt seine Umwelt genauer wahrnimmt, sie immer präziser zu beschreiben lernt, weil sein Wortschatz permanent wächst, und wie das Auf-Schreiben ihm große Freude bereitet und schon bald zu seiner Leidenschaft wird.

Ja, mehr noch wird das Schreiben für den Jungen schnell zum Lebensinhalt. Spätestens als er mit den Eltern in einem Kölner Restaurant sitzt, den intensiven Drang nach dem Schreiben verspürt und dann den vom Kellner geliehenen Block während des Essens von vorne bis hinten vollschreibt, mit Auszügen aus der Speisekarte, mit den Unterhaltungen der Eltern und der Gäste an den Nebentischen, mit der Beschreibung des Restaurants usw. — spätestens dann beginnen die „Außenarbeiten“, wie der Vater sie nennt. Spätestens dann ist allen klar, dass der Junge eine ganz große Begabung, ein Talent für das Schreiben hat.

Es ist zunächst der Vater, der mit dem Kind das Schreiben lernt. Die „Schreibschule“ des Vaters, in der kleinen Westerwälder Jagdhütte, wird nach den Ferien in der Kölner Wohnung fortgeführt. Hier richtet sich der kleine Hanns-Josef in der Abstellkammer seine eigene „Schreibwerkstatt“ ein. Bald gibt auch die Mutter, die auch wieder mit dem Sprechen angefangen hat, dem Jungen Schreibunterricht, aber der ist ganz anders als die Schreibschule des Vaters.

Womöglich ist es genau diese Mischung aus verschiedenen Arten des Schreibens, die das Kind so schnelle und große Fortschritte machen lässt. Der Vater als ein Mann der Messungen, der Zahlen, der Organisation und der Struktur, unterrichtet das Kind in der Logik der Sprache und der Grammatik, hilft ihm bei der Ordnung und Messung seiner Schreiberfolge. Mit dem Vater baut das Kind sein „Archiv“ auf, es werden alle Texte gesammelt und nach „Rubriken“ geordnet. Das schafft Struktur, Übersicht und macht stolz, weil der Stapel mit den einzelnen selbstgeschriebenen Blättern wächst und wächst.

Die Mutter ist eher musisch begabt, spielt gerne Klavier und fördert die Entwicklung des Kindes auf ganz andere Weise. Während Hanns-Josef mit dem Vater auch Natur-Beschreibungen geübt hat, soll er der Mutter über seine Gefühle schreiben, die er beim Hören und beim Üben der klassischen Klavierstücke empfindet. Wie klingen die Klavierstücke von Czerny? Wie Robert Schumann?

Auf diese Weise wird das Schreibtalent des Kindes unterschiedlich gefördert und kann sich in einer Art entfalten, wie es nur selten der Fall ist. Sicherlich mag auch die verspätete Entwicklung der Sprache und des Schreibens zu einer zusätzlichen Beschleunigung des Tempos und zu einer verstärkten Intensität der Glücksgefühle beim Schreiben beigetragen haben.

Hanns-Josef Ortheil besitzt aber neben dem Schreiben noch eine zweite große Begabung: das Klavierspielen. Von Klein auf übt er mit der Mutter, später mit einem Klavierlehrer; diese musische Ausbildung wird sicherlich die Entfaltung der Kreativität gefördert und auf diese Weise auch seinen Weg zum Schriftsteller geebnet haben.

Der Roman „Der Stift und das Papier“ erschien 2015 bei Luchterhand und ist jetzt erstmals als preisgünstige Taschenbuch-Ausgabe bei btb erhältlich. Was den Inhalt betrifft, so ist er im Grunde monothematisch, und man könnte befürchten, dass es über die 370 Seiten irgendwann langweilig würde; doch das Gegenteil ist der Fall. Es geht um die Entwicklung des Schreibtalents eines Kindes über die Zeit seiner ersten schriftstellerischen Erfolge bis zum Ende seiner Schullaufbahn.

Das Buch endet mit der Abreise des Abiturienten nach Rom: Der Autor möchte dort am Konservatorium Klavier studieren, weit weg von den Eltern, unabhängig und frei. So schwer diese räumliche Trennung ihm wie den Eltern fällt, so wissen doch alle, dass sie notwendig ist, um dem jungen Mann den Schritt ins Erwachsenenleben zu ermöglichen.

Wie gesagt, „Der Stift und das Papier“ dreht sich monothematisch rund ums Schreiben, doch gerade dadurch wird diese Lektüre faszinierend und extrem spannend, vorausgesetzt, man interessiert sich fürs Schreiben und für den Weg eines Berufenen zum Schriftsteller. Wer mit einer solchen reflexiven Beschäftigung mit dem eigenen Schreiben nichts anfangen kann, sollte dieses Buch meiden. Allen anderen Lesern aber sei die Lektüre von ganzem Herzen empfohlen!

Wie könnte es anders sein, dieser Roman ist natürlich auch eine Hommage an das Schreiben; er ist eine Spurensuche nach den eigenen Anfängen der eigenen Sprache, die erst unserer Welt ihre Struktur gibt und uns hilft, uns in ihr zurecht zu finden. Der Stift und das Papier strahlt herzenswarm und voll Liebe zum Schreiben als der einzig denkbaren und sinnvollen Lebensform für einen Schriftsteller. Nur beim Schreiben lebt er wirklich, und er lebt um zu schreiben. So einfach das klingt, so schwer ist manchmal der Weg dahin, der Weg zur eigenen Bestimmung und zum Sinn des Lebens.

Hanns-Josef Ortheil hat mehr als zwei Jahre an diesem Buch geschrieben. Es ist in jener kleinen Jagdhütte entstanden, an diesem genius loci seiner ersten literarischen Schritte tief im Westerwald: „All die vielen Seiten habe ich in dem kleinen, fast unveränderten Raum geschrieben, in dem ich die ersten Buchstaben und Sätze gekritzelt und später an vielen längeren texten gearbeitet habe. Wie früher habe ich meist morgens gegen 6 Uhr mit dem Schreiben begonnen und dann bis zum Mittag geschrieben. Die Nachmittage und Abende habe ich mit den Planungen verbracht.“

Dieser Roman gewährt uns auch einen Einblick in die stille Welt der Schreibstube, in ein größtenteils von störenden Einflüssen befreites Schriftsteller-Dasein. Es ist das berührende Zeugnis eines Lebens für das Schreiben und mit dem Schreiben als Lebensinhalt, als Lebensform. Es ist ein Roman, der von der ersten bis zur letzten Seite fesselt, weil in ihm nichts erfunden und hinzugefügt wurde, sondern alles von einer Authentizität durchdrungen ist, wie man sie selten, nur noch ganz selten in unserer Zeit des schönen Scheins findet.

 

Autor: Hanns-Josef Ortheil
Titel: „Der Stift und das Papier“
Taschenbuch: 384 Seiten
Verlag: btb Verlag
ISBN-10: 3442715296
ISBN-13: 978-3442715299