Telefoninterview mit Egyd Gstättner am 31.10.2017 über den „Wiener Fenstersturz“

RALPH KRÜGER: Herr Gstättner, Ihr aktueller Roman trägt den Titel Wiener Fenstersturz. Können Sie uns in einem Satz sagen, worum es in Ihrem neuen Buch geht?

EGYD GSTÄTTNER: Das ist in diesem Fall ganz einfach: Es geht um die letzte Sekunde des österreichischen Schriftstellers und Kulturhistorikers Egon Friedell. Diese Sekunde ist aber auf 320 Seiten ausgebreitet. Wie wir seit Einstein wissen, ist die Zeit etwas sehr Relatives, deshalb kann eine Sekunde ewig lang sein.

RALPH KRÜGER: Auch im Roman natürlich.

EGYD GSTÄTTNER: Natürlich! In einem Roman ist die Zeit ohnehin aufgehoben. Der Roman kommt zwar ohne technische Hilfsmittel aus im Gegensatz zu den meisten anderen Kunstmedien, aber er bietet den größten Möglichkeiten und Freiheiten für die Phantasie.

RALPH KRÜGER: Wie sind Sie eigentlich auf das Thema der Zeitreise und auf Egon Friedell und H. G. Wells gekommen?

EGYD GSTÄTTNER: Oh, das müsste ich eigentlich sehr lang und ausführlich erklären… Es ist bei meinen Büchern immer so, dass einzelne Romane durch ein, zwei Scharniere miteinander verbunden sind durch die Jahre und Zeiten. Wenn man nicht genau hinschaut, merkt man´s manchmal gar nicht. In dem Fall merkt man´s aber schon. Es kommt öfters vor, dass eine Nebenfigur aus einem früheren Roman bei mir Karriere macht und zur Hauptfigur in einem neuen Roman aufsteigt. – Die beiden letzten Romane hießen Das Geisterschiff (2013) und Das Freudenhaus (2015). Die Romane kommen also immer ungefähr in einem Zwei-Jahres-Rhythmus. Das Geisterschiff handelt von einem vergessenen Wiener Sezessionisten, Josef Maria Auchentaller, der so um die Jahrhundertwende ziemlich gleichbedeutend mit Gustav Klimt war, dann aufgrund verschiedener Umstände Wien verlassen hat, ans Meer gegangen ist, nach Grado, und dort mit seiner Frau die erste Pension, das erste österreichische Hotel im Küstenland gebaut hat. Sie waren sozusagen Pioniere des Tourismus. In diesem Roman tritt der Egon Friedell in einer kleinen Nebenrolle auf ungefähr drei Seiten auf. – Im nächsten Roman Das Freudenhaus geht es um etwas komplett Anderes, er spielt auch in einer anderen Zeit, nämlich teilweise in unserer unmittelbaren Gegenwart, teilweise in den Fünfziger und Sechziger Jahren Darin geht es um das Absurde Theater – ein Terminus technicus für eine der wichtigsten literarischen Neuerungen des 20. Jahrhunderts auf dem dramatischen Sektor. Stichwort: Eugène Ionesco und Die Stühle. Meine Geschichte spielt jedoch in einem sehr großen Fußball-Stadion in einer kleinen Provinzstadt, die sehr leicht als meine eigene Heimatstadt Klagenfurt zu erkennen ist. In Klagenfurt gibt es ein Fußball-Stadion für 32.000 Leute. Das ist für deutsche Verhältnisse nicht sonderlich groß; allerdings, wenn man sich bewusstmacht, dass die Stadt Klagenfurt insgesamt 90.000 Einwohner hat, würde ein Drittel der Stadtbevölkerung in dieses Stadion passen. In Berlin müssten Sie dann entsprechend ein Stadion für etwa 1,3 Millionen Menschen bauen. Es gibt allerdings noch einen wesentlichen Unterschied: In Österreich und zumal in der Stadt Klagenfurt hat der Fußball keine wirklich große Tradition im Sinne von Publikumsbegeisterung und Vereinstreue. Zu den Heimspielen des hiesigen Clubs kommen ungefähr 100 Leute, das heißt, dass 31.900 Plätze immer leer sind. Das ist Heimspiel für Heimspiel ein unglaublich gespenstisches Bild – und zwar dasselbe Bild wie im Stück Die Stühle von Eugène Ionesco! In meinem Roman gibt es in diesem Stadion die Auferstehung von Ionesco, der in Paris begraben liegt; aber er steht hier wieder auf und sieht seinen Klassiker des Absurden Theaters in seiner Maximal-Version inszeniert. Der Mann, der ihm das zeigt, lebt hier in der Provinz und heißt Egyd Fraundorfer. Der Egyd Fraundorfer ist wiederum eine Figur aus einem Roman von Jakob Wassermann, Zeitgenosse von Egon Friedell, und der hat in diesen Egyd Fraundorfer den Egon Friedell hineinverwurstet, und das ist mehr oder weniger ein Alter Ego im Roman. Aus diesen beiden Details der letzten beiden Romane entsteht die Hauptfigur des jetzigen Romans. – Das ist die erste mögliche und ziemlich lange Antwort, die zweite mache ich jetzt kürzer: Ich suche mir immer Protagonisten, in denen ich mich selber spiegeln und mit denen ich verschmelzen kann; diese Figuren müssen mir in der einen oder anderen Art und Weise ähnlich sein und entsprechen, damit mich das Schreiben und Komponieren überhaupt reizt. In dem Fall waren das alles historisch nachweisbare Figuren, allerdings im Roman biographisch nicht mit dem Anspruch auf absolute authentische Wahrheit gebaut, wiewohl das Meiste schon stimmt. Die Faktentreue ist eigentlich erstaunlich hoch, aber es gibt Scharniere, die meine Phantasie. Aber für alle meine Figuren, ob fiktiv oder real, ob mit historischer Vorlage oder ohne, gilt: Sie müssen mit dem Autor etwas zu tun haben! Es sind real existierende Figuren, denn hinter denen kann ich mich auch gut verstecken… und ich muss mich natürlich auch in sie hineinversetzen, hineindenken und hineinfühlen können. Natürlich muss man da auch manchmal lange suchen. Man kann nicht jeden X-beliebigen hernehmen, oft findet man lange Zeit niemanden, der einen juckt. Mit einer Figur zu arbeiten, die man eigentlich nicht leiden kann und die man nur kritisieren oder korrigieren müsste, ist wirklich nicht angenehm. Das führte zu einem permanenten Ausschlag am Schreibtisch…

RALPH KRÜGER: Es ist ja letztlich auch völlig legitim, dass einem das Schreiben Spaß macht und dass einem das Thema und die Figuren, mit denen man sich so lange befasst, angenehm sind und wirklich interessieren! Es fällt aber schon auf, dass Ihre Figuren in der Mehrheit Künstler sind oder zumindest Menschen aus einem künstlerischen Umfeld…

EGYD GSTÄTTNER: Na ja, das ist ja auch nicht unbedingt ein Zufall… Aber das heißt nicht, dass das immer so bleiben muss. Ich könnte mir vorstellen, wenn ich es schaffe, einmal auch zum Beispiel einen Fußballer zu nehmen. das würde mich sehr interessieren! Das zählt aber, glaube ich, mithin zum Schwersten überhaupt; ich kenne kaum gute Kunstadaptionen von Sport. Gerade als Sportfreund sieht man ja sehr, sehr schnell die Fehler und Holprigkeiten und auch die prinzipiellen Dinge, die einfach nicht stimmen. Sport ist auch gesellschaftlich ein relativ junges Phänomen, sagen wir mal 150 Jahre; bis die Kunst das kongenial adaptiert – sozusagen Radetzkymarsch im Happel-Stadion – , das kann schon noch einmal hundert Jahre dauern…

RALPH KRÜGER: Kommen wir wieder zurück auf Ihren aktuellen Roman. Ich finde den Aufbau Ihres Romans auch sehr interessant. Der erste Teil des Buches, in dem es um Friedells Sprung aus dem Fenster geht, liest sich ein wenig wie Zeugenaussagen, wie Protokolle. Wenn ich mir Ihren literarischen Werdegang anschaue, so haben Sie ja vor allem am Anfang Ihrer Karriere auch viel für´s Theater geschrieben und Stücke inszeniert. Könnte es sein, dass diese Art der dramatischen Gestaltung als Vorlage für den ersten Teil des Buches diente?

EGYD GSTÄTTNER: Das haben Sie schon richtig erkannt. Ich habe die einzelnen Abschnitte in diesem Roman ja „Bücher“ genannt, die man theoretisch auch – vielleicht nicht ganz – unabhängig voneinander lesen könnte, die sich aber schon sehr voneinander unterscheiden. Diese drei Teile unterscheiden sich formal, inhaltlich und auch konzeptionell voneinander. Der erste Teil ist vor allem dokumentarisch konzipiert; hier war es mir wichtig, eine Detail-Menge und Detail-Treue zu haben, und es wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt von Personen, die das alles erlebt haben, und nach und nach wird die Geschichte nachgestellt und vorwärts in die Zukunft gezeichnet. Dieser Teil ist also sehr realistisch und das Meiste auch wirklich nachprüfbar, so wie ich es auch recherchiert habe. Abgesehen vom Kompositorischen, ist da gar nichts erfunden; dieser Teil des Romans ist sehr faktentreu und realistisch.

Im zweiten Teil wird es dann plötzlich phantastisch, aber auch aus gutem Grund, wenn Sie nämlich die Kunst als Antriebsmittel nehmen – die Kunst von Friedell und von Wells, die ja beide eine Zeitmaschine geschrieben haben -, denn auf diese beiden beziehe und berufe ich mich ja.: Sozusagen „fantastischer Realismus“. Wenn man also die Prämissen aus der Kunst in die Wirklichkeit überführt, dann ist die Conclusio ganz plötzlich phantastisch, die reale Story geht imaginativ weiter. Bei der Konzeptions-Idee, also beim Bauplan für diesen Roman ist mir ein Film von Martin Scorsese Pate gestanden: Die letzte Versuchung Christi. Das ist eine Verfilmung der Vita von Jesus Christus, eineinhalb Stunden konventionell und im Grunde so, wie man es aus den Evangelien kennt, also vom jungen Christus, der zum ersten Mal seine göttliche Sendung bemerkt, mit allen Stationen – Gang durch die Wüste, Wunderwirken, Predigen – bis hin zur Kreuzigung. Dann am Kreuz passiert plötzlich ein „Wunder“, als ein Engel kommt und dem Christus sagt, so, jetzt hast Du allen bewiesen, was Du für uns tust, aber wir sind ja keine Barbaren, das brauchen wir nicht, dass Du da jetzt wirklich stirbst, komm´ mal runter vom Kreuz, nimm´ eine Frau, gründe eine Familie und züchte Vieh und krieg´ Kinder und leb´ einfach ein normales Leben… Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der die ersten eineinhalb Stunden realistisch erzählt worden sind, geht es jetzt phantastisch weiter. Und erst ganz am Ende bemerkt der steinalte Christus am Totenbett, dass der vermeintliche Engel der Luzifer selbst war, und dann haben wir die Worte: Es ist vollbracht. – Mit diesem Prinzip habe ich auch gearbeitet. Im zweiten Teil geht´s eben phantastisch los mit den Zeitreisen, dann kommt der Friedell gemeinsam mit Wells in unsere Gegenwart, in das Wien der Jahre 2016/17/18, und das wird dann zu einer Inspektion unserer Gegenwart und dessen, was aus unserer Welt geworden ist seit Friedells Tod. Auch das geschieht im Roman nicht unmotiviert, denn Friedell hat viel geschrieben vom Zukunftsmenschen, vom kommenden Menschen, den er sich erträumt und den er sich vorgestellt hat und den er gerne gesehen hätte, doch das war ihm nicht möglich. Das ermögliche ich ihm jetzt mit den Mitteln und der Hilfe der Literatur. – Und der dritte Teil des Romans macht wieder eine komplett neue Ebene auf. Angetrieben wird die Handlung von der Tatsache, dass der Fenstersturz Friedells kein einmaliger ist, sondern eine Art Endlosschleife, ein Immer-wieder-Springen, ein Sisyphosgeschäft. (Zu denken wäre dabei z.B. auch an den ersten Satz aus Camus´ Mythos von Sisyphos). Die Frage stellt sich natürlich, wie der Endlossprung möglich ist und warum er passiert. Unter den veränderten Bedingungen der Zukunft sucht er, der Roman (bzw. Friedell, bzw. ich) nach der Ursache für diese Endlosschleife. Die Zeiten haben sich geändert, ob sie besser oder schlechter geworden sind, sei dahingestellt, auf jeden Fall sind die Lebensbedingungen andere geworden. Die Bedrohung und Verfolgung Friedells durch die Nazis stellt de facto nicht mehr das Problem dar; die eigentliche, historisch scheinbar gesicherte politische Ursache für den Fenstersturz scheidet also als Begründung aus, doch im Roman springt er immer weiter und weiter. Nachdem in der Zukunft keine plausible Antwort dafür zu finden ist, müssen Friedell und sein Zeitchauffeur Wells eine zweite Zeitreise unternehmen, die zwangsläufig in die Vergangenheit führt und gleichzeitig eine Zeitreise ins Innere darstellt. Zeitreisen in die Vergangenheit sind ja immer Reisen in die eigene innere Vergangenheit, wie sollte es auch anders gehen?! Dafür ist natürlich auch Wien die prädestinierte Stadt mit Sigmund Freud, der ja auch ein Zeitgenosse Friedells war und die sich auch gekannt haben. Der dritte Teil wird also zu einer Art Psychoanalyse Friedells und seiner Kindheit.

RALPH KRÜGER: Wir haben jetzt die ganze Zeit über Egon Friedell und H. G. Wells gesprochen. Aber die beiden reisen ja nicht alleine…

EGYD GSTÄTTNER: Das muss man sich ungefähr so vorstellen wie bei den Bremer Stadtmusikanten: Da kommt immer noch einer dazu aus den verschiedenen Zeitphasen von etwa 1938 bis in unsere Gegenwart. Es beginnt schon mit Bohemien Peter Altenberg, dem ersten Lehrmeister und Lebensberater Friedells, gestorben 1918. Wenn Sie Wien besuchen, finden Sie noch das Café Central; der Peter Altenberg sitzt da seit Jahr und Tag als Pappmaché-Figur am Eingang japanischen Touristen zur Verfügung, die vermutlich weder wissen, noch ahnen, wer diese Figur ist bzw. war. Man kann in Wien viele Kaffeehäuser einem mehr oder weniger prominenten Autor zuordnen; erwähnt habe ich im Roman, glaube ich, das Café Bräunerhof; ein wichtiger österreichischer Autor mit deutschem Verlag, der eigentlich im Voralpenland gelebt hat, aber immer wieder nach Wien gekommen ist, zum Zeitunglesen oder um seine Sachen am Theater anzubringen, war der Thomas Bernhard. Dann schließt sich noch ein Zukunftswesen den Zeitreisenden an, der kommende Dichter, der sich ganz zeitgemäß Schrftstllr schreibt. Da habe ich mir leichtgetan, denn ich kenne ja etliche Kollegen, und das ist dann eine Kombinationsfigur, in der mehrere drinstecken, die aber einen Bezug zu Wien haben müssen und auch in ihrer Biographie Parallelen zu Friedell aufweisen. Es hat also verschiedene Auswahlkriterien gegeben, die entschieden haben, ob eine Figur zu mir in den Roman kommt. Einen von denen habe ich zum Beispiel ganz am Anfang zitiert und das Zitat der Geschichte als Motto vorangestellt: Michel Houellebecq. Er ist Franzose und hat mit Wien eigentlich nichts zu tun, aber er ist biographisch mit Friedell sehr verbunden, wovon er selbst wahrscheinlich gar nichts weiß.

RALPH KRÜGER: Wenn man Ihren Roman liest, wird man ja nicht nur gut unterhalten, sondern man lernt auch eine ganze Menge. Wieviel Recherche-Arbeit steckt in einem solchen Roman? Wenn man sich Ihre Vita anschaut, erfährt man, dass Sie Philosophie und Germanistik studiert haben. Hierdurch besitzen Sie sicherlich bereits ein recht solides Grundwissen, aber wieviel mussten Sie für diesen Roman noch recherchieren und wie haben Sie das angestellt?

EGYD GSTÄTTNER: Es war natürlich so, dass ich Einiges schon gewusst hatte. Aber mein Studium ist erstens schon sehr lange her, und zweitens hat es mir nur sehr indirekt geholfen, und somit hole ich jetzt in meinem Künstlerleben das nach, was mir im Studium nicht möglich gewesen war: Die Figuren, die für mich in der Kunst eine Rolle spielen, sind im Studium nie vorgekommen. Die waren verpönt, da haben die Professoren die Nase gerümpft… Es gibt ja einen gewissen Kanon, durch den jemand überhaupt erst würdig wird, ein Forschungsobjekt zu werden. Ich aber erhöhe die Niedrigen und erniedrige die Hohen. Der Egon Friedell galt die längste Zeit zu Lebzeiten als eine Art Kasperl, ein Satiriker, ein Komödiant… Das war er natürlich auch; doch dass er eigentlich ein sehr philosophischer und unglaublich belesener und gelehrter Mensch war, der tausendseitige Kulturgeschichten geschrieben hat, der den Österreichischen Nationalliteraturcharakter geprägt hat wie bis dahin nur Nestroy, ist die längste Zeit von den sogenannten Experten nicht wahrgenommen und gewürdigt worden. Gewissermaßen räche ich mich an meinen ehemaligen Professoren für ihre Leerstellen, Ignoranz, Intriganz, Arroganz und ihre beamtete Wissenschaftsmacht. Genau dasselbe hat Friedell hundertzwanzig Jahre vor mir mit seinen Professoren gemacht! So hatte sich Friedell dann auch bei den Professoren revanchiert, er hat sie vom Podest gestoßen, das war mehr oder weniger ein lebenslanges Scharmützel zwischen der Wissenschaft und Egon Friedell. – Insofern hat mir mein Studium bei diesem Roman schon geholfen, aber eben ex negativo. Die österreicheiche Antwort auf Goethe und Thomas Mann heißt nicht Stifter oder Grillparzer, sondern Nestroy und Friedell: Das klingt akademisch, ist aber existentiell. Der Nationalcharakter wirkt im Alltag.

Mein vorletzter Roman Das Geisterschiff spielt wie gesagt zum Teil im selben räumlichen und zeitlichen Umfeld, den ich freilich als Kulisse und Requisit verwende. Auf historische Korrektheit kommt es mir letztlich so wenig an wie Brecht bei seinem Leben des Galilei. Interessant sind für mich die Wahrheiten hinter den historischen Wahrheiten, und diese Wahrheiten sind gleichzeitig gegenwärtig und zeitlos. Anders formuliert: Geschichte ist in der Literatur nur dazu da, um Psychologie und Philosophie plastisch zu machen. Man muss selbstverständlich viel lesen, aber das ist ja eine interessante, lustvolle Tätigkeit. Wenn man sich einmal entscheiden hat, in welcher Welt und mit welchem Personal man die nächsten drei, vier Jahre seines Lebens virtuell verbringt, wenn man seinen Plot und sein Thema gefunden hat, dann entwickelt man nach und nach eine selektive Wahrnehmung, so dass das dann eigentlich gar kein Recherchieren mehr im strengen Sinne ist. Ich nehme meine ganze Umgebung und meine Wirklichkeit hauptsächlich nur noch unter dem Aspekt wahr, was mir für meinen Roman nützt und was ich aus meiner realen Wirklichkeit in die Romanrealität hineinpacken kann und was ich durch Transformieren zur Kunst machen kann. Das ist also weniger ein Arbeitsprinzip als ein Lebensprinzip. Das geht gar nicht anders. So kommt es auch dazu, dass man für Andere ein wenig abwesend und weltfremd wirkt, ganz sicher sogar, und das stimmt ja auch, weil man ja eigentlich während des Schöpfungsprozesses in einer anderen Welt lebt. Was ich dann noch in meiner biographischen Realität mache – Essen, Trinken, Schlafen -, dient ja nur noch der Lebenserhaltung und der Schaffung meines Werks. Aber im Grunde suche ich nur noch, was aufs Papier kommt. Ich habe zwar nicht in den Vergangenheiten gelebt, in denen mein Roman spielt, aber man muss sich die Detailarbeit an der Authentizität vielleicht so vorstellen: Wenn ich ein Mosaik baue, kann das Mosaik ein Bild oder eine Figur aus der Antike zeigen; doch die einzelnen Mosaiksteine stammen alle aus der Gegenwart. Die liegen auf der Straße, und ich hebe sie auf, sammle sie und arrangiere sie.

RALPH KRÜGER: Sie schreiben ja auch an einer Stelle den schönen Satz: „Alle Romane sind Zeitmaschinen“. Das stimmt auf jeden Fall für den Leser, der sich mithilfe des Romans auf eine Reise durch die Zeit begibt. Aber es stimmt, denke ich, ebenso für den Schriftsteller, der im Prozess des Schreibens und zuvor bei der Recherche sich ebenfalls auf eine Reise durch die Zeit, zu historischen Quellen und Handlungsorten, begibt. Da wir gerade bei Ihrer Arbeitsweise angelangt sind, würde mich interessieren, wie Sie an solch ein Roman-Projekt herangehen. Sie haben ja schon ansatzweise beschrieben, wie Sie auf die Idee gekommen sind. Haben Sie sich einmal für ein Thema und für bestimmte Figuren entschieden, so nehmen Sie alles auf, was in ihrer Umgebung dazu passt und sich für dieses Projekt verwenden lässt. Aber wie entwickeln Sie nach der ersten Idee das Konzept für ein solches Buch? Wie sieht bei Ihnen der Schreibprozess selbst aus? Ist ein solches Projekt vor dem Schreiben bereits komplett durchgegliedert und strukturiert? Oder gibt es einen Anfangs- und einen Endpunkt, und die Handlung entsteht spontan im kreativen Prozess des Schreibens selbst?

EGYD GSTÄTTNER: Sowohl als auch. Ich habe sozusagen eine Mischform. Leider lernt man von einem Roman sehr wenig für den nächsten. Es ist immer wieder eine neue Reise und ein neuer Aufbruch, und natürlich weiß ich am Anfang nie genau, wo ich hinkomme. Jeder Roman hat einen anderen Bauplan, eine komplett andere Antriebsmaschine, die sich – auch dem Autor – erst nach und nach offenbart. Insofern kann es eine Weile dauern, bis ich wirklich weiß, was passiert und was ich will. Es gibt einfachere Konstruktionen, die sich aber für mich nicht eignen würden. Der Aufbau des jetzigen Romans ist relativ kompliziert und man muss auch viel verschweigen, um Spannung zu erhalten. Wenn ich den Roman jetzt bei Lesungen präsentiere, stehe ich immer vor einer heiklen Situation; das eigentlich Tollkühne ist, so wie ich´s empfinde, dass sich nach hundert Seiten alles ändert und dass ich einen Toten ganz real mit großer Nonchalance und Selbstverständlichkeit zum Leben auferstehen lasse. Die ersten hundert Seiten sind also Trauerarbeit, und nach hundert Seiten plötzlich aufgrund der Kraft und Macht der Kunst, der Zeitmaschine etc. etc. ist alles anders: anders als unsere Wirklichkeit, anders als unsere Geschichtsbücher. Wenn ich jetzt den Leuten im Publikum verrate, was nach hundert Seiten passieren wird, nehme ich ihnen ja schon viel Spannung; auf der anderen Seite kann ich den Roman nicht präsentieren, indem ich nur die ersten zwanzig Seiten vorlese und ihnen dann sage: So, jetzt gehet hin in Frieden! –

RALPH KRÜGER: Und wie lösen Sie dann dieses Problem?

EGYD GSTÄTTNER: Ich muss bei Präsentationen nolens volens in kurzen Worten andeuten, dass es auf wundersame Weise, die ich aber coram publico nicht erkläre, doch weitergeht etc., und jetzt befinden sich meine Protagonisten in unserer Gegenwart, und dann lese ich noch zwei, drei Stellen aus dieser Gegenwart. Aber wie gesagt: Diese Eigenheit gilt jetzt für den neuen Roman; es gibt wieder andere Romane, wie der vorletzte über den Sezessionisten Josef Maria Auchentaller, der ist 84 Jahre alt geworden, und ich versuche, sein Leben nachzuzeichnen. Hier hat sich die kompositorische Frage gestellt, wie macht man das? Wie stellst Du 84 Jahre dar, wenn´s eigentlich darum geht, dass einer früh berühmt wird und dann schleichend sein Leben lang immer weiter ins Vergessen gerät? Ohne dass er´s will und dass er´s wirklich merkt. Zuerst rebelliert mein Held dagegen, dann findet er sich ab, dann tritt er hinter seine Frau zurück, dann verliert er seine Frau… dann verfällt er in Schweigen… Das ist von der Komposition her wirklich eine schwierige Frage! Aber 84 Jahre chronologisch im selben Erzähltempo über vierhundert Seiten, das ginge nicht, da steigt der Leser irgendwann einfach aus. Die Erzählzeit muss eine ausgeklügelte Abfolge von Zeitlupen und Zeitraffern sein, ebenso eine Abfolge von Retrospektiven und Visionen. Und dann die Perspektive, die Perspektiven und die Perspektivenwechsel! Ein Roman ist auch eine Abfolge von Szenen und Reflexionen. Jede Szene muss ja gebaut werden: Und die erste Frage, die sich dabei immer stellt, lautet: Wo stelle ich meine Kopfkamera hin? In welchem Moment schalte ich ein? Jetzt habe ich mich, um literarische Kompositionsarbeit zu verdeutlichen, der Terminologie des Films bedient. Genauso könnte ich die Terminologie der Kochkunst verwenden, der Bildhauerei, der Architektur, der Musik… das Reglement ist vielschichtig, variabel, multidimensional… Damals habe ich das so gelöst, dass der Roman in zehn Bilder gegliedert ist: Tatsächlich zehn real existierende Werke des Malers Auchentaller aus unterschiedlichen Lebensphasen, und jedes Kapitel behandelt ein Bild – und dessen Entstehungsbedingungen und Entstehungsgeschichte. Jedes Kapitel beginnt mit dem Maler vor seiner Staffelei, immer am Silvestertag. Er reflektiert, dieses Bild malend, was die letzten fünf Jahre passiert ist. So habe ich also eine Art Zeitraffer in diesem Roman. Die Frage der Zeit spielt ja in der Literatur immer eine Rolle. Das fängt schon an bei Lessings Text über die Laokoon-Gruppe: In der Malerei kann man ein Nebeneinander darstellen, in der Literatur ist es immer ein Nacheinander oder ein Voreinander. Man unterschätzt als Nichtschriftsteller ganz sicher die Qualen der Komposition. Allerdings sind es Qualen allerhöchster Lust. Die Sprache ist eine ebenbürtige Lustqualquelle. Wo sonst sind Werkzeug und Werk eins? Eigentlich steht man als Schriftsteller jeden Tag vor unlösbaren Aufgaben, und bis zum Abend hat man´s doch irgendwie gelöst. Es ist ja oft nur eine Seite oder eine kleine Detailfrage, morgens denkt man noch, das geht nicht! Abends ist es dann aber doch irgendwie gegangen… Das sind so Dinge, die nie ein Leser mitkriegt, die auch kein Kritiker mitkriegt, die kein Redakteur mitkriegt, aber da kämpft man halt mit sich.

RALPH KRÜGER: Der Leser ist ja in der angenehmen Lage, nur das fertige Endprodukt zu sehen, den feingeschliffenen und polierten Text zwischen den Buchdeckeln… – Herr Gstättner, Sie sind ja mit Ihrem neuen Roman zurzeit auf Lesereise. Aber gibt es schon ein neues Projekt, an dem Sie arbeiten?

EGYD GSTÄTTNER: Es ist bei mir seit Jahrzehnten so, dass ich immer alternierend einen Roman und dann im nächsten oder übernächsten Jahr einen Kurzprosa-Band und dann wieder einen Roman oder eine Sammlung von längeren Erzählungen mache. Ich nehme mal an, das Nächste wird solch ein Prosa-Band mit längeren Erzählungen werden. Möglicherweise auch wieder eine Sammlung von Viten, vielleicht etwas mit Märchen. Aber ich bin im Moment in der Findungsphase, und da lassen sich solche Voraussagen nur sehr vage treffen.

RALPH KRÜGER: Na, Ihr neuer Roman ist ja auch gerade erst herausgekommen…

EGYD GSTÄTTNER: Wobei ja, bis ein Buch wirklich am Markt ist, von der Fertigstellung an ungefähr ein Jahr vergeht. Im Wesentlichen war das Manuskript zum letzten Weihnachtsfest fertig. Dann liegt es noch eine Zeit lang, um nach dem Zeugungsrausch wieder nüchtern zu werden, dann kriegt´s der Verlag, dann gibt es noch eine Fassung, noch eine, danach die Fahnenkorrekturen. Aber Du beschäftigst Dich trotzdem noch immer mit deiner Schöpfung, auch wenn sie fertig ist. Das heißt: Wenn du sie für fertiggestellt erklärt hast und sie publiziert worden ist. Aber es gibt heute noch Tage, da wache ich in der Früh auf, und es fällt mir ein wunderbarer Buchtitel ein für ein Buch, das 1995 erschienen ist!

RALPH KRÜGER: Und wie lange haben Sie jetzt insgesamt am Wiener Fenstersturz gearbeitet, recherchiert und geschrieben?

EGYD GSTÄTTNER: Am Grab von Egon Friedell am Wiener Zentralfriedhof war ich im Herbst 2013. Das heißt: Summa summarum etwa vier Jahre. Die meisten meiner letzten Romane fangen am Friedhof an: Ich war in Paris beim Ionesco; ich war in Grado bei Auchentaller; ich habe einen Roman über einen jungen Philosophen, den man wahrscheinlich überhaupt nicht kennt außerhalb des Friaul, der hieß Carlo Michelstaedter, der war so ein bisserl Kleist, ein bisserl Otto Weininger, ein bisserl Kafka… Schreiben heißt ja nicht immer, am Schreibtisch sitzen und schreiben, sondern auch warten, schauen, bereit, empfänglich sein, lauern, beobachten, kombinieren, fantasieren, formulieren, konstruieren, faschieren… schreiben wird, wie bereits gesagt, irgendwann zu einem Lebensprinzip, eine nicht zu isolierende, portionierende Tätigkeit, sondern eine Geistesstoffwechseltätigkeittätigkeit, und dann schreibst Du beim Spazierengehen, Du schreibst in der Badewanne… und weil man nicht weiß, ob und wann und wo etwas kommt, habe ich immer etwas zum Aufschreiben dabei! Neben der Badewanne, am Nachtkästchen, im Auto, am Fahrrad…

RALPH KRÜGER: Genau diese Frage habe ich mir auch gestellt: Wie schreiben Sie? Tatscheln Sie die Oberfläche eines Tablets, tippen Sie am Computer oder auf einer Schreibmaschine? Oder schreiben „ganz analog“ mit der Hand?

EGYD GSTÄTTNER: Zunächst schreibe ich immer handschriftlich. Ich habe in jedem Sakko ein Notizbüchlein und einen Stift; ich habe bei mir in der Wohnung, im Haus, in jedem Zimmer irgendwo ein Notizbüchlein. Wenn mir ein Einfall kommt (das sind vor allem Sprach-Einfälle, Formulierungen), schreibe ich den sofort hinein. Alle zwei, drei Tage werden dann alle Notizbücher kontrolliert und die Notizen in ein größeres Buch transkribiert; dieses größere Buch kommt auf den Schreibtisch; danach gibt´s dann eine längere Fassung, die ich in den PC tippe und die dann später ausgedruckt und wieder handschriftlich überarbeitet wird. Die Handschrift ist schon sehr wichtig, denn da fließt´s am besten. Bei kompositorischen Fragen ist das Handschriftliche nicht so wichtig, da ist es egal. Aber man glaubt es nicht, wie unwiederbringlich Wortstellungen sind! Wenn ich in der Nacht im Halbschlaf einen Satz habe, den muss ich aufschreiben; der kommt im Alpha-Zustand aus einem Vorbewussten oder Unterbewusstsein, jedenfalls aus einem der vielen Nebel meiner selbst, und es manchmal wirklich ein Kampf mit dem Körper und gegen das Trägheitsgesetz, weil man gerade wieder am Einschlafen ist. Wenn man aber der Bequemlichkeit nachgibt und denkt, ich schreibe das einfach morgen früh auf, und der Satz hat sechs Worte: Am Morgen erinnerst Du Dich zwar vielleicht noch an die sechs Worte, aber Du schaffst es nicht mehr, diese sechs Worte so wieder in die Reihe zu bringen, wie sie gestern Abend waren, damit sie klingen! Unmöglich! Unglaublich, aber unmöglich! Das sind wirklich oft Eingaben, und die musst Du sofort aufschreiben, sonst sind sie weg! Den Seinen gibt`s der Herr im Schlaf! Aber er nimmt`s ihnen auch wieder im Schlaf, wenn sie nicht aufstehen udne s fixieren!

RALPH KRÜGER: Das ist doch ein schönes Schlusswort: Das muss man aufschreiben, sonst ist es weg! Herr Gstättner, vielen Dank für das interessante Gespräch!

EGYD GSTÄTTNER: Ich danke Ihnen.