Als gebürtiger West-Berliner kenne ich den Spruch nur zu gut. Immer wenn jemand links argumentierte und einige Errungenschaften der DDR zur Sprache brachte, die gar nicht so verkehrt waren und über deren Einführung man im Westen doch vielleicht ebenfalls mal nachdenken könnte, hieß es: „Wenn’s Dir hier nicht passt, dann geh’ doch rüber!“
Dass dies dann für einige Leute durchaus eine Option darstellen könnte, hatte man immer mal wieder gehört, aber Genaues wusste man nicht. – Dies ändert sich nun dank eines kleinen Büchleins aus dem Ch.Links-Verlag.
Doch es wird sogar noch exotischer, denn es geht hier nicht um jene Hand voll an Westdeutschen und West-Berlinern, die ihrem Staat ganz offiziell den Rücken kehrten und in die DDR auswanderten. Martin Schaad hat diejenigen „Grenzfälle“ untersucht, bei denen die Mauer von West nach Ost überwunden wurde.
In den 28 Jahren, in denen die Stadt Berlin in zwei Hälften geteilt war, sind mehr als 400 Menschen von West nach Ost über die Mauer geklettert. Die Motivation für diese zunächst paradox erscheinenden Grenzverletzungen sind sehr verschieden: politischer Protest Heimweh, Geldwetten, Liebe, Sehnsucht, Kunst-Aktion, geistige Verwirrung, Aggression gegen das DDR-Regime oder einfach nur Trunkenheit.
In seinem vergnüglich zu lesenden Streifzug durch die West-Berliner Mauerzeit nimmt Martin Schaad diese zum Teil tragischen, zum Teil kuriosen Fälle unter die Lupe. Ein eigenes Kapitel wurde der „Republikflucht“ gewidmet, einem Terminus technicus der offiziellen Organe der DDR. In diesem Fall geht es jedoch um die Besetzung des Lenné-Dreiecks im West-Berliner Tiergarten.
Im Sommer 1988 sollte das Grundstück von der DDR an das Land Berlin zurück gegeben werden. Die West-Berliner Administration hatte große Pläne mit dem Grundstück. Autonome Gruppen waren dagegen. So wurde das Gelände besetzt und ein Hüttendorf mit rund 240 Einwohnern errichtet. Als die West-Berliner Polizei das Gelände räumen wollte, kam es zur ersten und letzten Massenflucht vom Westen in die DDR. Die Republikflüchtlinge (West) wurden von den Grenztruppen der DDR auf Lastwagen geladen, gut versorgt und gelangtem am nächsten Tag wieder wohl behalten in den Westen.
Mit schönen Schwarzweiß-Fotos und in launigem Erzählstil informiert Martin Schaad den Leser auf über 200 Seiten über ein bislang nicht dokumentiertes Kapitel deutsch-deutscher Geschichte.
Prädikat: lesenswert.
Autor: Martin Schad: „Dann geh doch rüber. – Über die Mauer in den Osten“
Broschiert: 200 Seiten
Verlag: Ch. Links Verlag
ISBN: 3861535165
EAN: 978-3861535164