Im ersten Teil seiner auf drei Bände konzipierten Philosophiegeschichte beschrieb Richard David Precht die Suche der Philosophen von den Anfängen bis ins Spätmittelalter. Prechts Philosophiegeschichte ist ein gutes Beispiel für eine spannende Reiseliteratur, denn die Suche nach den Ursachen und Zusammenhängen der Welt, nach Antworten auf die Fragen nach dem großen Ganzen der Welt, der Wirklichkeit, der eigenen Existenz, hat über weite Strecken Ähnlichkeit mit einer Reise ins Ungewisse. Das dem ersten Band voranstehende Motto: „Erkenne die Welt“ ist symptomatisch für jenen ersten Abschnitt der Geschichte der Philosophie.
Wenn nun im zweiten Teil das Motto lautet „Erkenne dich selbst“, so spiegelt dies die Philosophien jener Zeit des Aufbruchs und der Aufklärung wider. In seinem zweiten Band behandelt Precht folgerichtig die zahlreichen Strömungen der Philosophie des ausgehenden Mittelalters bis in die Zeit des Deutschen Idealismus, von Cusanus bis Hegel. Renaissance und Aufklärung wenden den Blick von der Welt auf sich selbst. Es ist die Zeit der Entdeckung des Individuums.
Während sich mit diesem Perspektivwechsel fundamentale Veränderungen in der Philosophie verbunden sind, ändert sich (zum Glück) in der Darstellungsweise jenes historischen Aufrisses gar nichts: Precht schreibt seine Philosophiegeschichte mit einer solchen Leichtigkeit, dass man dem Text seine oft schweren und mühseligen Vorarbeiten nicht ansieht. Während des Schreibens stand Precht mehr als einmal vor dem Problem, die Komplexität zu reduzieren, Auswahlen zu treffen, auf manche „Lieblinge“ zu verzichten zugunsten der Übersichtlichkeit. Ganz zu schweigen von mehreren Achttausendern wie Spinoza, Leibniz oder Hegel, bei denen sich die grundsätzliche Frage nach der Darstellbarkeit und angemessenen Würdigung ihrer Denksysteme im Rahmen einer Philosophiegeschichte stellt.
Das Ergebnis ist auch im zweiten Band wieder derart überzeugend, dass dieses Werk für jeden, der sich für die Philosophie des Abendlandes (denn darauf muss sich der Autor nicht zuletzt aus Gründen des Umfangs beschränken) interessiert, zur Pflichtlektüre wird. Mit „Erkenne dich selbst“ halten wir den zweiten Teil einer durchaus eigenwilligen und subjektiven philosophischen Geschichtsschreibung in den Händen. Diese Subjektivität des Autors ist jedoch gewollt, sie wird offen dokumentiert und ist insofern zu begrüßen.
Von seinem Umfang und von der Perspektivierung des Autors her erinnert Richard David Prechts Geschichte der Philosophie durchaus an Egon Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“. Hier wie dort steht ein Autor im Vordergrund, der seine Sicht auf die Dinge und seine Einsicht in die großen Zusammenhänge in schöner Sprache und geschmackvoller Auswahl präsentiert.
In beiden Fällen geht es nicht ohne eine Reduktion der materialen Fülle, um eine Verengung des Blickwinkels und um eine begründete und nachvollziehbare Darstellung des vorliegenden Materials. Precht ist ein Meister solcher Perspektivierungen. Wer eines seiner Bücher gelesen hat, weiß, was er erwarten darf. Sein Ton hat niemals etwas Oberlehrerhaftes, sondern holt ganz im Gegenteil den (gewöhnlichen, nichtakademischen) Leser dort ab, wo er steht. Alles, was man mitbringen muss, ist ein leidenschaftliches Interesse für die Materie. Dann steht einer beglückenden und lehrreichen Lektüre nichts mehr im Wege.
Allerdings muss man sich darüber im Klaren sein, dass man nicht „einfach mal so“ die vorliegenden 650 Seiten dieses Bandes durchlesen kann und sogleich zu einem Experten in Sachen Philosophie avanciert. Hier sind mitunter wirklich dicke Bretter zu bohren, und der Weg von der ersten bis zur letzten Seite kann, je nach vorhandenem Grundwissen, ganz schön mühselig und lang sein.
Precht macht es dem Leser einerseits leicht, indem er ein hervorragender Stilist und ein sehr belesener und interdisziplinär denkender und schreibender Schriftsteller ist; andererseits soll dieses Buch auch ein Arbeitsbuch sein, eine Anleitung zum Selberdenken, denn nur so wird daraus auch eine fruchtbare Lektüre, bei der eine Menge Fakten und Einsichten hängenbleiben. Noch wichtiger ist jedoch, dass sich der Leser, um es mit Kant zu sagen, seines eigenen Verstandes bedient.
Auf dem Rückumschlag des ersten Bandes stand der schöne Satz: „Lesen ist Denken mit einem fremden Gehirn.“ Das ist zweifellos richtig. Doch hierfür muss man sein Gehirn bereits eingeschaltet haben. Damit aus dem reinen Lesen auch ein eigenes Denken wird, dazu muss man bereit sein, mit diesem Buch und seinen fremden Gedanken zu arbeiten. Doch welche Arbeit könnte schöner sein, als sich mit den grundlegenden Fragen nach dem Wie, Warum und Wozu zu beschäftigen und sich sodann auf die Reise zum eigenen Selbst zu machen?!
Autor: Richard David Precht
Titel: „Erkenne dich selbst – Eine Geschichte der Philosophie – Band II“
Gebundene Ausgabe: 672 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag
ISBN-10: 3442313678
ISBN-13: 978-3442313679