Matthias Zschokke ist nicht der Erste, der seine Leseerfahrungen mit Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit aufschreibt, um sie mit Anderen zu teilen oder um sich selbst zu vergewissern, was man da eigentlich gerade macht.
In den letzten Jahren gab es gleich mehrere Autoren, die sich an einer Proust-Lektüre versucht und ihre Erfahrungen in Buchform veröffentlicht haben. In den meisten Fällen bleibt das Werk als solches, abgesehen von den beschriebenen Mühen der Lektüre, in seinem Status als Jahrhundertwerk der Weltliteratur unangefochten, wenn es nicht sogar, wie es der Kanon vorschreibt, über allen grünen Klee gelobt wird. — Hier nicht.
Proust gehört als fester Bestandteil zum Kanon der Weltliteratur, doch seien wir mal ehrlich: Wer von uns hat dieses über 5300 Seiten (Frankfurter Gesamtausgabe) umfassende Prosawerk wirklich und komplett gelesen? Da muss es schon einen ganz besonderen Anschub geben, einen Anlass und einen wirklich guten und triftigen Grund, sich diesem Mammut zu nähern und den Kampf mit der Prosa aufzunehmen.
Der Autor war zu Beginn seiner Lektüre noch der festen Meinung, dass man die Suche nach der verlorenen Zeit „ja wohl einmal in seinem Leben gelesen haben sollte“. Gleichwohl war er sich von Anfang an nicht sicher, ob er auch die nötige Disziplin aufbringen würde, alle dreizehn Bände der deutschen Ausgabe durchzuhalten.
Nach den ersten beiden Bänden ist er von seinem Scheitern überzeugt. Die Sprache der deutschen Übersetzung ist ihm „viel zu mastig. Eine Perle an die andere gereiht; Perlendünnpfiff.“ Der „schwüle Bombast“ der Sprache drückt ihn nieder. „Aber noch gebe ich nicht auf.“
Und so kämpft er sich weiter, immer weiter, tapfer voran; immer tiefer und tiefer führt seine Expedition ins Unbekannte, und je weiter er in diesem Fünftausendseitendickicht vorankommt, desto größer werden die Anstrengungen, desto schmerzhafter erfährt er die Mühen der Ebene und erleidet tapfer und stoisch höllische Strapazen beim Durchwandern endloser Täler und beim Erklimmen der Berghöhen.
Doch Proust gehört unweigerlich zum Kanon der Weltliteratur. Doch diese Kanonisierungen waren Zschokke schon immer suspekt. Im Fall der Recherche hält er sie schlichtweg für falsch: „Keiner soll mir jemals sagen können, das Jahrhundertwerk in seiner ganzen Pracht und Größe sei nur zu erkennen, wenn man es zu Ende gelesen habe. Ich werde es zu Ende gelesen haben und werde bis ans Ende meiner Tage wissen, dass es sich bei diesem Meisterwerk um kein solches handelt.“
In Bezug auf den Kanon schreibt er einen einprägsamen Satz, der in zukünftige Zitatensammlungen zum Thema Literatur und Kanon aufgenommen werden muss, so gut ist er: „Was man gelesen haben muss, muss man nicht gelesen haben.“
Matthias Zschokke wurde 1954 in Bern geboren und lebt seit 1979 als Filmemacher und Schriftsteller in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, wurde mit renommierten Preisen gewürdigt und hat nun die Erfahrungen mit seiner exzessiven Proust-Lektüre aufgeschrieben.
Was dabei herausgekommen ist, liest sich nicht nur als ein Erfahrungsbericht, sondern hat das Potential einer Verführung zum Selbstlesen. Dabei ist Matthias Zschokke alles Andere als begeistert von Prousts Werk. Ganz im Gegenteil: Je länger er liest, desto mehr ärgert er sich über diese verschwurbelte Sprache und Prousts Psychologie, mit der er einfach nicht klarkommt: „Was für ein verschwätztes, hohles, affiges, eitles, dummes Geschwurbel. Und vor allem: Was für ein Gefühlsanalphabet, was für ein Empfindungslegastheniker!“
Das sind harte Worte, doch für Zschokke steht das vernichtende Urteil fest: „Das ist schiere Vergewaltigungskunst: Sie zwingt ihre Rezipienten allein mit Masse in die Knie und ertrotzt Verehrung. Entweder ergibt man sich ihr, oder man wird exkommuniziert. Sektenkunst.“ So würgt er also bis zur letzten Seite diesen Text herunter und kaut auf ihm herum, was ihm mit zunehmender Seitenzahl immer schwerer fällt, und am Ende ist er sich sicher: „Ich werde niemals Mitglied einer wie auch immer gearteten Proustgesellschaft.“ Mit Proust ist er fertig, im doppelten Sinne.
Doch so verrückt es klingt, nach diesem Bericht eines furchtbaren und verlorenen Sommers mit Proust dürfte so mancher Leser neugierig geworden sein und eben gerade wegen dieses Verrisses durchaus ernsthaft mit dem Gedanken spielen, es selbst einmal zu versuchen mit der Proust-Lektüre! Seien Sie also auf der Hut! Die gut 60 Seiten dieses schmalen Büchleins lesen sich locker-flockig und in einem Rutsch, doch auch solche paradoxen Nebenwirkungen sind nicht ausgeschlossen! Am Ende sitzen Sie dann vor über 5000 Seiten Proust, die in gedruckter und gebundener Form jene normative Kraft des Faktischen (Habermas) entwickeln, die Sie regelrecht zur Lektüre zwingt.
Für die meisten Leser türmt sich Prousts Werk wie ein riesiger Berg auf. Doch wie im echten Leben beginnt auch hier der Aufstieg mit dem ersten Schritt bzw. die Lektüre mit der ersten Seite. Sollten Sie sich also entschieden haben, den ersten Schritt zu wagen und die Herausforderung anzunehmen, so sei Ihnen die schöne siebenbändige Ausgabe von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in der Neuübersetzung von Bernd-Jürgen Fischer aus dem Reclam-Verlag empfohlen.
Natürlich können Sie auch auf die (in Zschokkes Buch empfohlene und gelobte) Frankfurter Ausgabe mit Luzius Kellers Revision der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens zurückgreifen, die bei Suhrkamp erschienen ist. Mit diesen schön gebundenen Ausgaben haben Sie beinahe etwas für die Ewigkeit erworben, und gleichzeitig gönnen Sie sich mit dieser Anschaffung das angenehme Gefühl, eine Ausgabe in den Händen zu halten, die auch mehrere Lektüre-Durchgänge aushält, ohne gleich auseinander zu fallen.
Wie und womit Sie auch immer anfangen, die Lektüre von Prousts Recherche ist etwas, das jeder wenigstens einmal im Leben versucht haben sollte. Damit dieser Versuch nicht gleich am Anfang scheitert, empfiehlt sich vorab die Lektüre dieses kleinen Wegweisers von Matthias Zschokke. Denn auch wenn das schmale Büchlein nicht explizit als ein solcher gekennzeichnet ist (ganz im Gegenteil versteht es sich wohl eher als eine Warnung), wird der aufmerksame Leser eine Menge Tipps und Anregungen, Ermahnungen und Empfehlungen aus diesen 60 Seiten ziehen, die seine Lektüre erleichtern und angenehmer lassen werden. Wer also unbedingt Proust lesen will, bitteschön!
Es ist ja nicht so, dass alles nur schlecht war: Auch Matthias Zschokke selbst stieß immer wieder auf hinreißende Passagen, die ihn begeisterten und seinen spröden Lese-Marathon versüßten. Doch insgesamt kommt er zu der Überzeugung: „Am Anfang der Recherche ist sie [die Sprache] beeindruckend, oft überwältigend. Mit der Zeit aber realisiert man, dass der Autor an einer schweren Logorrhöe leidet und es ihm von selbst so gedengelt daherlabert. […] Es ist als Ganzes ein entsetzliches Buch, mit herrlichen Passagengen drin, phantastischen Portraits dann und wann, anbetungswürdigen Szenen, stilistischen Bravourstücken, dazu auch gleich noch mit einem erschöpften Selbstkommentar und der umfassendsten Textexegese nebst dazugehöriger Poetologie, die man sich nur wünschen kann, kurzum ein literarisches Perpetuum mobile: Es schreibt, liest, preist und segnet sich selbst bis in alle Ewigkeit.“ — Ein hartes und mutiges Urteil, das nachzuprüfen wäre. Aber das geht eben nur dummerweise durch eine eigene Proust-Lektüre!
Autor: Matthias Zschokke
Titel: „Ein Sommer mit Proust“
Gebundene Ausgabe: 64 Seiten
Verlag: Wallstein
ISBN-10: 3835331310
ISBN-13: 978-3835331310