Ralf Konersmann: „Wörterbuch der Unruhe“

In seinem vielbeachteten Buch Die Unruhe der Welt (2015) machte sich der Philosoph Ralf Konersmann auf die Suche nach einer Genealogie der Unruhe. Nun folgt mit dem Wörterbuch der Unruhe ein zweiter Band, der sich mit dem kulturellen Phänomen der Unruhe beschäftigt.

„Im Unterschied zu der vor zwei Jahren veröffentlichten Monographie, die den historischen Gesamtzusammenhang entrollt, konzentriert sich das Wörterbuch auf ausgesuchte Themen, auf Austragungsorte und Schauplätze der Unruhe“, schreibt Ralf Konersmann in seiner Einleitung. Das Wörterbuch liefert „also nicht das Gleiche noch einmal, sondern [setzt] eigene Schwerpunkte auf der Basis [bislang] ungenutzter Quellen“.

Warum aber ein Wörterbuch? — Ralf Konersmann folgt in diesem Punkt der Sichtweise von Roland Barthes, der in seinen Mythen des Alltags bereits 1957 meinte, es gäbe „nichts Beruhigenderes als ein Wörterbuch“. Wörterbücher vermitteln eine scheinbare Stabilität der Begriffe und somit der Verhältnisse. „Wörterbücher wollen Felsen in der Brandung sein, Orte der Verlässlichkeit, der gesicherten Information und der anerkannten Tatsachen.“

Leider sieht unsere Wirklichkeit aber ganz anders aus. Begriffe sind verhandelbar, spätestens seit der Moderne führen die Begriffe „ein Eigenleben als Spielmarken des Weltgeschehens.“ In diesem Sinne kann ein Wörterbuch nur eine scheinbare Sicherheit vermitteln; der Leser muss sich permanent der Veränderbarkeit der Verhältnisse bewusst sein. Im Grunde ist auch dies ein modernes Phänomen, das in engem Zusammenhang mit der Unruhe, der Inquietät, steht. „Wissen […] ist und kann nur Wissen in und sogar als Bewegung [sein]: Wissen, das die Welt verändert.“

Auch gefühlt leben wir seit Langem in unruhigen Zeiten, und so ist es für die Philosophie naheliegend, sich mit dem Phänomen der Unruhe eingehender zu beschäftigen. Doch Ralf Konersmann geht es eben gerade nicht um die gefühlte Unruhe, um die innere Unruhe, die uns befällt und der wir unter einer Dauerbelastung mit Stressreaktionen und Burn-out begegnen; dem Autor liegt vielmehr an jener unterschwelligen Unruhe der Zeit, die so omnipräsent und normal geworden ist, dass wir sie gar nicht mehr richtig wahrnehmen und ihre Berechtigung auch nicht in Frage stellen.

Der Autor diagnostiziert unserer Gesellschaft einen „Konsens der Unruhe“ sowie ein „Klima der Vertrautheit und der fraglosen Akzeptanz“, die uns nicht guttut. „Wie haben wir gelernt, die Unruhe zu lieben?“ fragt sich Ralf Konersmann, und er geht dieser Frage in dreißig Essays zu verschiedenen Lebensbereichen, Wirkungsfeldern und Haltungen in Bezug auf die Unruhe nach. Seine Überlegungen faszinieren durch ihren unverstellten Blick und die Freiheit des Denkens außerhalb bzw. quer zu allen kategorialen Systemen.

Es geht ihm in erster Linie um die Frage, „auf welchen Wegen und aufgrund welcher Erwartungen die westliche Kultur dazu übergegangen [ist], überlieferte Regeln als Reglementierungen, Hemmungen als Hindernisse, Bindungen als Behinderungen, Vereinbarungen als Fesseln zu kommunizieren“.

„Das Spezifikum der Unruhe“ versucht der Autor „auf dem Umweg über die genealogische Rekonstruktion“ zu erfassen. Er möchte also gerade den umgekehrten Weg vorschlagen, um die Unruhe-Symptomatik unserer Gefühle innerer Unruhe zu beschreiben, sondern die „Phänomenwelt der moralischen Unruhe“ zu erschließen. Diese moralische Unruhe, um die es dem Autor geht, ist jenes Umfeld, vor dessen „Hintergrund sich das Geflimmer all der Ereignisse abspielt, denen unsere Aufmerksamkeit eigentlich gehört“. Die Unruhe kennen wir alle, sie begegnet uns „in Gestalt des stillschweigende, des vorbewussten und in diesem Sinn impliziten Wissens“, das nicht ausgesprochen wird, weil es so selbstverständlich geworden ist.

Ralf Konersmann ist Professor für Philosophie an der Universität Kiel und Direktor des dortigen Philosophischen Seminars. Er ist u. a. Mitherausgeber der Zeitschrift für Kulturphilosophie sowie des Historischen Wörterbuchs der Philosophie und Wissenschaftlicher Beirat des Archivs für Begriffsgeschichte. Zahlreiche Publikationen zu philosophischen Themen machen ihn zu einem der bekanntesten und bedeutendsten deutschen Philosophen der Gegenwart.

Seit der Moderne scheint das ungeschriebene, aber immer wieder von allen wiederholte und verinnerlichte Gesetz des „schneller, höher, weiter“ zum Diktum unseres Handelns erhoben worden zu sein. Dieses Gesetz verändert die Sichtweise auf die Welt und das Denken des Einzelnen. Mit ihm wird eine Atmosphäre der Unruhe und der Ungeduld hergestellt. Aller Aufschub wird als verlorene Zeit, jeder Widerstand als ein zu überwindendes Hindernis betrachtet auf dem Weg zur Selbstoptimierung.

Doch längst ist die Unruhe zu einem festen Hintergrundrauschen unserer Zeit geworden; die Kulturbedeutung der Unruhe „entspringt aus ihrer Aktualität: aus dem, was ihr zugetraut wird und es ihr […] ermöglicht hat, die Wirklichkeit ihren Vorgaben gemäß einzurichten.“

Bereits vor über 100 Jahren hat der Berliner Soziologe und Kulturphilosoph Georg Simmel von der Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft im Rahmen des Prozesses der Vergesellschaftung gesprochen. Gesellschaft wurde von ihm — im Gegensatz beispielsweise zu Émile Durkheim, der von sozialen Tatbeständen ausging und einen Gesellschaftsbegriff sui generis vertrat — als ein dynamischer und permanenter Austauschprozess betrachtet.

Ebenso könnte man an dieser Stelle sagen, dass die Unruhe einerseits Einfluss nimmt auf unser kollektives und individuelles Denken, Fühlen und Handeln, dass aber auch andererseits die Unruhe selbst durch unser unruhiges Handeln im gesellschaftlichen Kontext immer wieder erzeugt wird — also das klassische Wechselwirkungsmodell.

Ralf Konersmanns Wörterbuch der Unruhe möchte „exemplarische Anbahnungen, Bekräftigungen und Verfestigungen dessen freilegen, was sich als Unruhekultur etabliert hat, […] [soll] ohne Anspruch auf Vollständigkeit geläufige Themen und Bildstrecken aufgreifen. […] Es versteht sich als ein Ort, an dem das kulturelle Grundgewebe unserer geistigen Orientierungen exemplarisch zutage tritt und wir etwas mehr über uns selbst und unsere kulturelle Wirklichkeit erfahren. […] Es präsentiert Denkwege und Spielformen der Inquietät.“

Um diesem speziellen Anspruch gerecht zu werden, bedient sich der Autor der einzig möglichen literarischen Form: des Essays. Gerade der Essay bietet die nötige Freiheit in der Form wie im Inhalt, stellt keine allzu hohen Anforderungen an die Gliederung und auch nicht an die Wissenschaftlichkeit des Textes. Folgerichtig liefert der Autor keinen typisch wissenschaftlichen Anhang mit Fußnoten-Apparat, sondern einen achtzig Seiten umfassenden Anhang mit Hinweisen, die der Vertiefung bestimmter Punkte dienen sollen. Ein Quellenverzeichnis und Register runden dieses Wörterbuch der Unruhe ab.

Ralf Konersmann hat dieses Buch geschrieben, um die Mechanismen der Unruhe unserer Zeit offenzulegen. Am Ende seines Essays steht die „nüchterne Einsicht, […] dass ein einfaches Rezept, wie das Leben von Unrast und Hektik befreit werden kann, nicht zu erwarten ist.“ Schließlich ist die gängige Ansicht, dass theoretische Überlegungen Teil einer Problemlösung sein könnten, schon genau Teil des Problems selbst. Sie ist ein Zeichen und Spiegelbild der verinnerlichten Unruhe. So ist auch die vor einiger Zeit aufgekommene Diskussion um die Entschleunigung der Prozesse ein Ansatz, der die Unruhe (und die Beschleunigung) in keinem Moment grundsätzlich infrage stellt, sondern nur mit einer entgegengesetzten Bewegung zu beantworten sucht.

An diesem Punkt könnte gerade eine theoretische Beschäftigung mit dem Thema ein Loskommen ermöglichen, denn „Theorien nehmen Stellung, indem sie das Selbstverständliche als das, was es ist, bewusst und vielleicht sogar verständlich machen.“ Indem wir uns aber die Unruhe bewusstmachen und unsere Beteiligung an ihren Beschleunigungsprozessen sehen, ist jener Automatismus unterbrochen. „Genau in diesem Sinne versteht sich das Wörterbuch als Intervention.“

So soll dieser Text „den über Jahrhunderte hinweg gefestigten Monolog der Unruhe erfassen und ihn […] der Fraglosigkeit entziehen“. „Die initialen Plausibilisierungsschritte und die daraus hervorgegangenen Überzeugungen zu rekapitulieren, […] ist der Anspruch des in diesem Wörterbuch praktizierten Verfahrens der philosophischen Genealogie“.

Am Ende seiner Abhandlung zur Unruhe kommt der Autor zu dem Schluss: „Wer es mit der Wirklichkeit der Unruhe aufnehmen will, muss bereits sein, von sich selbst zu erwachen.“ Selbstdistanzierung als Mittel zur Selbsterkenntnis. Das ist nicht gerade neu und originell, dürfte sich jedoch auch im Zusammenhang mit der Suche nach einem Ausweg aus der unhinterfragten Unruhe als der einzig mögliche Ansatz herausstellen.

 

 

Autor: Ralf Konersmann
Titel: „Wörterbuch der Unruhe“
Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
Verlag: S. FISCHER
ISBN-10: 3100025334
ISBN-13: 978-3100025333

 

 

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