Deborah Feldman: „Unorthodox“

Im vierten Jahrhundert verfasste Augustinus seine „Confessiones“. Diese Bekenntnisse eines zum Christentum Bekehrten gehören zu den ersten autobiografischen Schriften der Weltliteratur. Seine Bußschrift liest sich wie ein viele Hundert Seiten langes Gebet; es ist die (für christliche Leser berückende, für atheistische Leser bedrückende) Entwicklungsgeschichte einer Abkehr vom weltlichen Leben und der selbstgewählten Unterwerfung unter den Willen Gottes.

Deborah Feldmans Autobiografie „Unorthodox“ ist das genaue Gegenteil: Es ist die Geschichte einer Befreiung aus einem (eben gerade nicht selbst gewählten) religiösen Gefängnis. Von ihrer Geburt an war sie Mitglied in der ultraorthodoxen Sekte der Satmarer. Mitten in Williamsburg, einem Stadtteil von Brooklyn, wuchs sie auf in einem abgeschlossenen Universum mit eigenen Regeln und Gesetzen, mit wirklich sehr eigenen Gesetzen und Ansichten.

Die Satmarer gehören zu jenen ultraorthodoxen Gruppierungen, die durch ihre strengen Regeln das reine Judentum bewahren wollen und ihren Alleinanspruch als die einzig wahren Juden auch vehement vertreten. Sie betrachten sich als die Auserwählten. Ihre Sicht der Dinge ist für Außenstehende oftmals schwer nachvollziehbar; so sind die Satmarer fest davon überzeugt, dass der Holocaust die gerechte Strafe für die liberalen Verirrungen der Juden war: Wer vernichtet wurde, hatte es nicht besser verdient. Auch mit dem Staat Israel wollen sie nichts zu tun haben; denn der Zionismus ist für sie eine Todsünde. Alljährlich gehen viele ultraorthodoxe Juden am Israelischen Unabhängigkeitstag in New York auf die Straße und demonstrieren für die Vernichtung Israels.

In diesem Umfeld wächst Deborah Feldman auf. Es ist die hermetisch abgeriegelte Welt der Satmarer-Gemeinde in Williamsburg. Sie wird von ihren Großeltern aufgezogen, von Zeidi, der die meiste Zeit des Tages mit dem Studium der heiligen Schriften verbringt, und Bubby, ihrer fleißigen Großmutter, die selbst den Holocaust überlebt hat. Ihre Mutter hatte bald nach Deborahs Geburt die Familie verlassen, sie ist für die Familie zur Goyte, zur Nicht-Jüdin geworden, es hieß, sie sei verrückt geworden; auch ihr Vater entwickelte bald eine mentale Störung, so dass er die Aufzucht seiner Tochter nicht mehr selbst in die Hand nehmen konnte.

Aufzucht ist das passende Wort. Der Leser wird durch die Geschichte der Ich-Erzählerin von der ersten Seite an in den Bann gezogen. Denn es ist die Geschichte eines Leidens unter unvorstellbaren Verhältnissen, ein Leben nach den strengen Regeln der Orthodoxie und unter der züchtenden Kontrolle des Familienvorstands; vor allem aber betreibt Deborah von klein auf eine freiwillige Selbstkontrolle. Sie wächst mit den Werten und Vorstellungen ihrer Familie und damit auch der ultraorthodoxen Juden von Williamsburg auf.

Mädchen sind hier Menschen zweiter Klasse, schon früh bekommt Deborah das zu spüren. Sie möchte ein gutes Mädchen, ein feynes meydele, sein, auf das ihr Zeidi stolz sein kann. Doch weil sie bei den Großeltern aufwächst, also eigentlich keine Eltern hat, wird sie automatisch zur Niddah, zu einem Sorgenkind. Dies weckt einerseits Selbstzweifel in dem jungen Mädchen, andererseits versucht sie diesen vermeintlichen Makel zu kompensieren, indem sie eine besonders fleißige Schülerin wird.

Doch was lernt man als Mädchen schon in der Shul? Man liest gemeinsam die Morgengebete in den Siddurim, den hebräischen Gebetsbüchern, lernt die Jichud-Regeln auswendig, wird in den Derech Erez, den Ehrenkodexen, unterwiesen; doch das ist schon fast alles, was ein jüdisches Mädchen wissen muss, welches schon bald nach der Highschool verheiratet und fortan als die Ehefrau und Mutter einer streng orthodoxen Familie ihrem Mann untertan sein wird? Der Unterricht findet ausschließlich auf Jiddisch statt, Englisch wird zwar auch unterrichtet, es gilt aber als die Sprache der Anderen, der Welt da draußen, die voller Gefahren und Versuchungen ist.

Auf der Meta-Ebene liest sich dieses Buch auch wie eine soziologische Studie über Gruppen und deren Dynamiken. Wer zur In-Group der Satmarer-Gemeinde gehören will, muss sich bedingungslos deren Regeln unterwerfen. Zu diesem Innen gehört das Außen der restlichen Welt, diese scharfe Dichotomie ist die Grundvoraussetzung für die Existenz der Gruppe und ihren Zusammenhalt.

Indem ein Feindbild der Außenwelt gezeichnet wird, das oftmals jeder realen Grundlage entbehrt, wird ein adhäsiver und inkludierender Sog erzeugt, der die Mitglieder der Sekte zusammenschweißt; wer sich den Regeln unterwirft, erfährt das Lob und die Anerkennung der anderen Gruppenmitglieder, gleichzeitig sind alle Anderen als Nicht-Gläubige ausgeschlossen und werden zu Feinden der eigenen Gruppe erklärt.

Am Beispiel der fundamentalistischen Satmarer-Gemeinde von Williamsburg lässt sich studieren, welche Mechanismen bei Exklusion und Inklusion zusammenspielen und wie es möglich ist, dass Menschen freiwillig in einer hermetischen und nach eigenen Regeln konstruierten Gesellschaft leben. Dieser fundamentalistische Mechanismus ist keineswegs exklusiv auf die jüdischen Ultraorthodoxen beschränkt; christliche und islamistische Fundamentalisten, buddhistische Extremisten und andere Sekten bedienen sich derselben Instrumente, um ihre Mitglieder an sich zu binden und den eigenen Regeln zu unterwerfen.

Deborah Feldman ist Teil dieser seltsamen Welt, doch sie ist ein neugieriges Mädchen, und das ist ihr Glück. Denn sie stellt sich Fragen, möchte wissen, wie die Welt funktioniert, und je älter sie wird, desto mehr beginnt sie, ihre abgeschlossene Welt zu hinterfragen und infrage zu stellen.

Heimlich liest sie englische Bücher, die natürlich verboten sind, und wird durch die Lektüre von Kinderbüchern inspiriert. Später, als Teenager, wird sie in Die Erwählten von Chaim Potok, Stolz und Vorurteil von Jane Austen und vor allem durch Ein Baum wächst in Brooklyn von Betty Smith sich selbst wiederfinden, und diese Lektüren helfen ihr mehr und mehr, auf Distanz zu gehen und mit der Enge der eigenen Verhältnisse fertig zu werden. Doch diese Geschichten von außerhalb machen auch die eigene Welt immer fragwürdiger.

Wer wie Deborah seinen Kopf zum Denken benutzt, merkt schnell, dass vieles von dem, was der Satmarer Rebbe behauptet, nicht stimmen kann. Gleichwohl spielt sie bis zum Ende mit und tut, was von ihr erwartet wird. Und so fügt sie sich auch der unvermeidbaren Prozedur der Heiratsanbahnung.

So besucht sie die Heiratskurse, den Kallah-Unterricht und auch die Hashkafah-Kurse, die die jungen Mädchen eher informell auf die Ehe und den Umgang mit dem Mann vorbereiten sollen. Schnell ist ein Mann gefunden, es wird Verlobung gefeiert und nach ein paar Monaten wird sie noch vor ihrem achtzehnten Geburtstag mit Eli verheiratet, einem jungen, blonden Mann Anfang zwanzig.

Als junge Frau hat Deborah natürlich auch ihre Regel. Auch als menstruierende Frau ist sie wieder eine Niddah, eine „zur Seite Gestoßene“, eine „Unreine“. Allein schon diese verbale Herabsetzung sagt eine Menge über das krude Frauenbild der Orthodoxen. Für mindestens zwei Wochen wird sie nun eine Unreine sein, sich von ihrem Mann fernhalten müssen, jede Berührung ist zu vermeiden, nicht einmal einen Teller mit Essen darf sie ihm reichen, ohne damit gegen die strengen Regeln zu verstoßen. Um wieder rein zu werden (für den Mann), geht die Frau am Ende ihrer unreinen Zeit in die Mikweh, das reinigende Ritualbad.

Gleich nach der Hochzeit wird Deborahs Kopf geschoren. Sie ist nun eine Ehefrau und wird für den Rest ihres Lebens Perücken tragen, weil es verheirateten Frauen verboten ist, ihr Haupthaar zu zeigen: ein weiteres Zeichen der Unterwerfung der Frauen unter die männlichen Glaubensregeln, vergleichbar der Verschleierung muslimischer Frauen oder katholischer Nonnen.

Auch sonst geht die Sache nicht gut. Beide sind sexuell unerfahren und schaffen es nicht, die von allen Verwandten erwarteten Kinder zu zeugen. Es liegt nicht nur an der mangelnden Erfahrung, sondern auch an Elis intimem Umgang mit anderen Jungs sowie an Deborahs Vaginismus, mit dem sie wohl eher unbewusst die verkrampfte Atmosphäre ihrer Ehe psychosomatisch verarbeitet. Schließlich wird sie doch noch schwanger, doch auch die Schwangerschaft verläuft nicht ohne Probleme. Der kleine Yitzy kommt etwas früher auf die Welt, weil Deborah an einer Präeklampsie leidet, die für das Baby gefährlich sein könnte, weil ihr Körper auf den Embryo allergisch reagiert; auch dies wieder ein Zeichen der inneren Abwehr.

Als sie nach der Geburt merkt, dass ihr Mann sie betrügt, zieht sie sich immer weiter zurück und geht gleichzeitig in die Offensive. Sie nimmt wieder den Kontakt zu ihrer Mutter aufm nachdem sie zufällig durch einen Dokumentarfilm erfahren hat, dass ihre Mutter die Familie verlassen hat, weil sie lesbisch ist; „lesbisch“ war für die Satmarer-Gemeinde gleichbedeutend mit „verrückt“, aber das hatte ihr niemand verraten.

Deborah Feldman geht auf die Suche nach einem besseren Leben, bewirbt sich am College und wird angenommen. Ihrem Mann erzählt sie, dass sie Wirtschaftsunterricht nehmen und Buchhaltung lernen will. Doch sie belegt einen Poetik-Kurs, Philosophie und Literatur, findet neue Freunde, wird immer selbstbewusster. Sie schreibt: „Mein Leben ist eine Übung im Verheimlichen, wobei das größte Geheimnis mein wahres Ich ist, und für mich ist es am allerwichtigsten geworden, dieses Ich vor Eli zu verbergen.“ Verbergen muss sie auch ihren Blog (mit dem Titel „Chassidische Feministin“), den sie in dieser Zeit zu schreiben beginnt. Schnell entwickelt sich der Blog zu einem lebhaften Forum, in dem alle Fragen chassidischen Lebens diskutiert werden, und das Ganze entwickelt eine ungeahnte Eigendynamik.

Es wird immer deutlicher, dass sie austreten muss. Zum Purim-Fest 2009 besucht sie ein letztes Mal Williamsburg und ihre Großeltern. Das alte Sandsteinhaus zerfällt. „Wie passend, dass sich die Fundamente des Zuhauses meiner Kindheit auflösen, als sich auch die prägenden Fundamente meines Glaubens dem vollständigen Zusammenbruch nähern. Ich nehme auch dies zum Zeichen, dass ich auf dem Weg bin, auf den ich vor langer Zeit schon von einer Macht gebracht worden bin, die größer war als meine eigene. Gott möchte, dass ich gehe. Er weiß, dass ich hierfür nie bestimmt war.“

Nach diesem Besuch nehmen die Dinge ihren Lauf. Ihre neue Freundin Polly hatte Deborahs Blog an alle möglichen Verlage geschickt, eine Literaturagentur wurde neugierig und nahm sie unter Vertrag. Ein Autounfall auf dem nächtlichen Heimweg wird zum Erweckungserlebnis und sorgt für den endgültigen Bruch mit ihrem Ehemann und damit für den entscheidenden Schritt in die Freiheit.

Unorthodox“ ist die spannende und mitreißende Geschichte einer Selbstbefreiung; Deborah Feldman beschreibt auf bewegende Weise, wie sie nach und nach den Glauben an die Regeln ihrer chassidischen Gemeinde und schließlich auch an einen Gott verliert, der angeblich alles sieht und für alles verantwortlich ist, der sich aber nicht für Deborah zu interessieren scheint. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die in einer ultraorthodoxen Gemeinde mitten in New York City aufwächst und ihren Weg in die Freiheit beschreibt.

Vor kurzem erschien Überbitten, der zweite Teil der Autobiografie von Deborah Feldman. In diesem Buch geht ihre Geschichte weiter: in den USA und in Europa. Mittlerweile lebt sie mit ihrem Sohn in Berlin und hat vor kurzem sogar die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Es sieht so aus, als ob sie hier wirklich angekommen ist und eine neue Heimat gefunden hat, eine Heimat, die ihr ein unabhängiges Leben in Freiheit ermöglicht, ein Leben ohne religiöse Zwänge und Einschränkungen.

Deborah Feldmans Lebensbeschreibungen fesseln vor allem durch die Authentizität und Ehrlichkeit der Autorin sowie durch eine erfrischende stilistische Unverdorbenheit. Es scheint, als ob hier eine Autorin schreibt, die durchaus selbst viel gelesen hat, die aber vor allem durch das jahrelange Schreiben ihrer Tagebücher ihre eigene Stimme gefunden hat.

Es ist eine wundervoll direkte und gleichzeitig sehr reflexive Art der Beschreibung, in der das Außen und das Innen sich zu einem Text verbinden, der den Leser nicht mehr loslässt, bis er das Ende des Buches erreicht hat; mit anderen Worten: ganz große Literatur. Insofern kann man für die Zukunft nur auf weitere Romane, Erzählungen oder auch Essays von Deborah Feldman hoffen.

 

 

Autor: Deborah Feldman
Titel: „Unorthodox“
Taschenbuch: 384 Seiten
Verlag: btb Verlag
ISBN-10: 3442715342
ISBN-13: 978-3442715343