Der Krieg in Syrien, im Irak, in Afghanistan, der Klimawandel und die damit einhergehende Verarmung von Millionen Menschen in Afrika — sie sind Teil der Ursachen einer massenhaften Zuwanderung von Geflüchteten aus diesen und anderen Regionen nach Europa, vor allem nach Deutschland. Der polnische Soziologe Zygmunt Bauman, der seit Jahrzehnten in Großbritannien lebt und lehrte, hat nun eine sehr interessante Schrift über Die Angst vor den Anderen geschrieben; er selbst nennt sie einen Essay über Migration und Panikmache.
Wer die Bücher von Zygmunt Bauman kennt, der weiß, dass sich seine Texte durch einen distanzierten Blick auf die Dinge sowie durch seine Kunst auszeichnen, über die künstlich gezogenen Grenzen der einzelnen Disziplinen hinaus zu schauen und zu denken. So verbindet er oft Soziologie, Philosophie und Politik mit Kunst, Literatur und Kultur; er schreibt stets aus einer gesellschaftskritischen und globalisierungskritischen Perspektive, die seinem materialistischen Weltverständnis entsprechen. Das Grundthema der sozialen Ungleichheit durchzieht die meisten seiner Texte, es ist und bleibt sein Lebensthema.
Das Phänomen des Fremden wurde schon früh in der Soziologie und Philosophie beachtet, doch so weit brauchen wir gar nicht in der Begriffsgeschichte zurückgehen. Es genügt festzustellen, dass das/der Fremde, je nach Disposition des Betrachters, entweder als Bereicherung oder als Bedrohung gesehen werden kann.
In einer Gesellschaft lebt man mit Anderen zusammen, die zwar auch fremd sind, die wir ebenfalls nicht kennen, von denen wir aber annehmen, dass sie in etwa dieselben moralischen und kulturellen Regeln akzeptieren wie wir. Anders ist das bei dem Auswärtigen, dem Fremden, der aus einem sichtbar anderen Kulturkreis zu uns kommt.
Bauman schreibt: „Über Fremde wissen wir dagegen viel zu wenig, um ihre Schachzüge durchschauen und angemessen darauf reagieren zu können – also ihre Absichten zu erkennen und ihre nächsten Schritte zu antizipieren. Nicht zu wissen, was man als Nächstes tun und wie man auf eine Situation reagieren soll, die man nicht herbeigeführt und auch nicht unter Kontrolle hat, ist eine wichtige Ursache von Angst und Furcht.“
Dabei sind wir als Teil einer „zunehmend deregulierten, polyzentrischen, aus den Fugen geratenen Welt“ eigentlich ständig mit dem Neuen, dem Ungewissen konfrontiert; jedoch lösen die Nachrichten über jene „Flüchtlingsströme“, die unreguliert die Grenzen überschreiten und zielstrebig auf unser Land zuwandern, eine diffuse Angst und Unbehagen aus, „das feindselige Gefühle gegen sie weckt und zu Gewalt einlädt“, meint Bauman weiter.
Werfen wir einen Blick auf unsere durch den Neoliberalismus und die Globalisierung eines schonungslosen und ungehinderten Wettbewerbs unterworfenen Gesellschaften, so lassen sich schnell große Gruppen von Ausgegrenzten identifizieren, das neue Prekariat der westlichen Industriegesellschaften, die keinen Platz und keine Rechte mehr haben in einer Welt des globalisierten Kapitals.
„Sie leben in Armut, Elend und Verachtung inmitten einer Gesellschaft, die sie auszustoßen trachtet und sich zugleich der Großartigkeit ihres unvergleichlichen Komforts und
Reichtums rühmt. […] Für die Ausgestoßenen […] ist die Entdeckung eines weiteren, noch tieferen Bodens als der, auf den sie selbst gedrückt worden sind, eine seelenrettende Erfahrung.“
Für sie verkörpern die ständig neu eintreffenden Immigranten „den Zusammenbruch der Ordnung“. Der Nomade, der selbst aus einer zusammengebrochenen Ordnung geflohen ist um zu überleben, wird zum Symbol für die „endemische Zerbrechlichkeit unseres hart erarbeiteten Wohlstands“.
„Der einzige Weg aus den aktuellen Unannehmlichkeiten wie auch den zukünftigen Leiden [wäre es,] nach Möglichkeiten [zu] suchen, in einen engen und immer engeren Kontakt mit den anderen zu gelangen, der hoffentlich zu einer Verschmelzung der Horizonte führt statt zu einer bewusst herbeigeführten und sich selbst verschärfenden Spaltung.“
Für Bauman macht es keinen Sinn, weiter um den heißen Brei zu reden. „Die Menschheit befindet sich in der Krise – und es gibt keinen anderen Ausweg aus dieser Krise als die Solidarität zwischen den Menschen.“ Das klingt nicht nur wie ein Vermächtnis, es ist eines.
Der Autor beobachtet als Reaktion auf die Migranten eine „frei flottierende Unsicherheit auf der Suche nach einem Anker“, welche sich in Teilen der Bevölkerung breitmacht. Diese Unsicherheit ist nachvollziehbar, zumal sie durch die Medien immer wieder hervorgerufen und durch Wiederholung verstärkt wird. Panikmache ist gut fürs Geschäft.
Doch Zygmunt Bauman beschäftigt sich in seinem Essay auch intensiv mit der anderen Seite, der der Politiker, und die Frage, wie jene mit den Ängsten der Menschen spielen und sie für ihre Interessen instrumentalisieren.
„Securitization“ heißt ein Neologismus, der sich im englischen Sprachraum gebildet hat, um jenes Phänomen der „Versicherheitlichung“ zu beschreiben, mit dem die Politik versucht, ihren Machteinfluss sowie ihren Legitimationsanspruch zu stärken. Es geht um handfeste Machtinteressen, so viel ist klar. Ob Viktor Orbán in Ungarn, Donald Trump in den USA oder Erdogan in der Türkei, das Spiel mit der Angst der Menschen endet immer im Ruf nach mehr Sicherheit, und da kommen die Migranten aus dem Nahen Osten und dem Maghreb gerade recht.
„Die Versicherheitlichung ist ein Taschenspielertrick, der genau das bewirken soll. Er verschiebt die Angst von Problemen, die der Staat nicht zu lösen vermag (oder gar
nicht erst angehen möchte), auf Probleme, mit denen die Regierung sich – wie täglich auf unzähligen Bildschirmen zu sehen – eifrig und (gelegentlich) erfolgreich auseinandersetzt.“
Zur ersten Kategorie zählen die tatsächlichen und schwierigen Aufgaben wie die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze, Zuverlässigkeit und Stabilität des sozialen Status, effektiver Schutz vor sozialem Abstieg und Sicherheit vor Verletzungen der Würde; zur zweiten Sorte zählt vor allem der Kampf gegen den Terrorismus als ein Mittel zur Legitimation der Macht.
Populisten wie Viktor Orbán nutzten die Gunst der Stunde und machten kurzerhand die Pauschalisierung „Alle Terroristen sind Migranten“ zur Argumentationsgrundlage für ihre radikale Abschottungspolitik. Anstatt einen Sturm der Entrüstung auszulösen, erwies sich Orbáns martialischer Grenzzaun als überaus populär. Die Zustimmung zu seiner Flüchtlingspolitik stieg von 68 auf 87 Prozent.
Bauman bringt in diesem Zusammenhang einen neuen Begriff ins Spiel, die „Adiaphorisierung“ des Themas Migration: indem man die Migranten mit Terroristen identifiziert, sie als fremdartige Horden bezeichnet, die sich auf keinen Fall assimilieren wollen usw., gelingt es schnell, sie außerhalb der eigenen moralischen Verantwortung zu stellen. In ihrer Verunsicherung sind viele Menschen gerne bereit, den Propagandalügen der neonationalistischen Regierungen (Ungarn, Polen, Slowakei) zu glauben und dieses Feindbild zu übernehmen. Wenn Fremde zu Feinden deklariert werden, sind sie nicht mehr Teil unseres Wertesystems.
Eine »Adiaphorisierung« des Themas Migration bedeutet, dass „die Migranten und das, was man mit ihnen macht, […] nicht länger unter moralischen Gesichtspunkten bewertet“ werden muss. Bauman weiter: „Sind die Migranten in der öffentlichen Meinung erst einmal der Kategorie potenzieller Terroristen zugeordnet, stehen sie außerhalb des Bereichs der moralischen Verantwortung“.
Man kennt einen ähnlichen Effekt, den Leon Festinger als „kognitive Dissonanz“ bezeichnete; diese entsteht, wenn wir zwar wissen, dass wir eigentlich dem Fremden und Schutzsuchenden gegenüber verantwortlich sind, wir jedoch nicht entsprechend handeln. Anstatt nun das eigene Verhalten zu ändern, ist es oftmals viel leichter, einige Strategeme zu entwickeln, die mein bisheriges Verhalten legitimieren, so zum Beispiel die (mediale) Bestätigung, dass viele der Migranten in Wahrheit Terroristen oder Fundamentalisten seien.
„Die Entmenschlichung bereitet den Weg für ihren Ausschluss aus der Kategorie der legitimen Träger von Menschenrechten und führt – mit fatalen Folgen – zu einer Verschiebung des Migrationsproblems aus dem Bereich der Ethik in den der Sicherheitsbedrohungen, der präventiven Verbrechensbekämpfung und der Strafverfolgung, der Kriminalität, der Verteidigung der Ordnung und letztlich des Ausnahmezustands, der gewöhnlich mit Bedrohungen durch militärische Aggression und Feindseligkeiten assoziiert wird.“
Doch es kommt fast noch schlimmer: „Ein Gespenst geht um in den Ländern der Demokratie: das Gespenst des starken Mannes (oder der starken Frau).“ Diesen Wiedergängern des Nationalismus und Populismus begegnet man in vielen Verkleidungen: sie maskieren sich als rechtsradikale Blondine, als orangefarbener Medienclown oder als erzkonservative ältere Männer in dunklen Anzügen.
Ihnen gemeinsam ist die strikte Ablehnung alles Fremden und Nonkonformen. Doch es gibt auch Politiker, die die Migranten als Faustpfand für die Durchsetzung der eigenen politischen Interessen ausnutzen; so besteht ein fatales gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Bundesregierung und dem Despoten vom Bosporus, aber auch zwischen ihr und libyschen Rebellenführern. Alles nur, damit die Flüchtlinge nicht nach Europa kommen, sondern jenseits der Außengrenzen in gigantischen Lagern eingesperrt werden.
Bauman konstatiert: „Das Geld, das man afrikanischen Staaten zur Verfügung stellen will, die den Ausgangspunkt der »Migrationskrise« bilden, ist in erster Linie für die Einrichtung von Lagern zur Aufnahme (und Überwachung) der nach Europa strebenden Migranten bestimmt“. In diesem Zusammenhang noch von einer „Migrationskrise“ zu sprechen, die Europa bedrohe, grenzt an Zynismus. Der Begriff der Migrationskrise ist übrigens „ebenso vage wie unheilverkündend und absichtsvoll alarmierend“. Nichts wird in dieser Hinsicht von den Medien dem Zufall überlassen; hier wird ganz gezielt Stimmung gemacht.
Wer von einer Migrationskrise oder von einer Flüchtlingskrise spricht, zeigt deutlich, welchen politischen Standpunkt er vertritt. Das Fremde wird als Bedrohung empfunden; die absoluten Zahlen der Migranten sprechen der Angst vor Überfremdung zwar Hohn, aber Menschen tendieren gern zu irrationalen Ansichten, solange es ihnen in den Kram passt oder diese auch nur entfernt überzeugend klingen. Außerdem waren Völkerwanderungen und Migrationsbewegungen in der Geschichte der Menschheit eher die Regel als die Ausnahme. Zum Glück, muss man ergänzen, denn erst durch den (friedlichen) kulturellen Austausch war der Mensch in der Lage sich weiterzuentwickeln.
Im letzten Abschnitt seines hervorragend und mitreißend geschriebenen Essays sucht Bauman nach einer Antwort auf die Frage nach dem richtigen Umgang mit jenem Phänomen der massenhaften Migration. Er findet eine Antwort bei Immanuel Kant und seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795).
Kant ging es darum, in einer von Krieg und Krisen geschüttelten Welt einen neuen, aufklärerischen Akzent zu setzen und der Menschheit einen Weg zum ewigen Frieden zu bahnen. Es ist also eine visionäre Schrift, wenn man so will.
In seinem Dritten Definitivartikel zum ewigen Frieden erklärt Kant: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.“ In diesem Kontext „bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. […] Es ist kein Gastrecht, […] sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten“.
Das Recht auf Aufenthalt wird also bei Kant von denen gewährt, die bereits da sind; es ist kein einklagbares Bleiberecht, sondern ein Besuchsrecht! Zygmunt Bauman weist auf den entscheidenden Unterschied hin und fasst zusammen: „Kant fordert, Hostilität durch Hospitalität, Feindseligkeit durch Wirtbarkeit zu ersetzen.“
All dies berührt natürlich fundamental die Frage nach der eigenen Moral und den Anforderungen, die sie an unser Verhalten stellt. Zunächst ist klar, „moralisch sein heißt im Kern, den Unterschied zwischen Gut und Böse zu kennen und zu wissen, wo die Grenze zwischen beiden verläuft. […] Im weiteren Sinne heißt es auch, die eigene […] Verantwortung für die Förderung des Guten und den Widerstand gegen das Böse zu erkennen.“
„Kant glaubte, moralisches Wissen, also das Wissen, was richtig und was falsch ist, sei allen Menschen gegeben, und zwar dank der allen Menschen gegebenen Vernunft. Er war sich indessen nicht so sicher, ob aus diesem Wissen auch notwendig moralisches Handeln folgt.“
Doch Kant lebte vor über 200 Jahren in einer Gesellschaft und einer Realität, die sich radikal von unserer heutigen unterschieden. Heute leben wir nicht mehr nur in der realen Welt, sondern haben mit dem Internet und der Online-Welt einen alternativen virtuellen Aufenthaltsort geschaffen, der für viele attraktiver ist als dir analoge Realität. Denn in der Online-Welt darf ich meine Meinung in Echokammern verkünden, die meine Sicht der Dinge verstärken. Mit anderen Worten:
„In der Online-Welt hingegen bin ich verantwortlich und habe ich die Kontrolle. […] Der Vorzug der Online-Alternative gegenüber der Offline-Existenz liegt im Versprechen und der Erwartung einer Befreiung von den Beschwernissen, Unannehmlichkeiten und Nöten, unter denen die Bewohner der Offline-Welt zu leiden haben“.
In der realen Offline-Welt jedoch gibt es das Phänomen der Begegnung, mit all seinen positiven und negativen Möglichkeiten, „das Phänomen der Begegnung, die zu einem
Dialog führt, der zwar nicht unbedingt auf Einvernehmen, sicher aber auf wechselseitiges Verständnis zielt.“
Bauman verweist an dieser Stelle auf den deutschen Philosophen Hans-Georg Gadamer, der in seinem Buch Wahrheit und Methode (1960) zeigte, dass Verstehen eine „Horizontverschmelzung“ auslöst; es geht bei einer Begegnung also letztlich um die Schaffung eines gemeinsamen Rahmens oder Horizonts:
„Horizontverschmelzung und Lebensweltverschmelzung greifen ineinander, bedingen sich wechselseitig und steuern auf einen wie auch immer gearteten Zustand zu, der als ihre erfolgreiche Vollendung gilt.“ Ganz im Sinne Gadamers ist dieser Prozess niemals abgeschlossen. Wer Gadamers Denkmodell des Hermeneutischen Zirkels kennt, wird sich erinnern: Zur Deutung und mit dem Ziel des Verstehens (z. B. eines literarischen Textes) geht man immer schon mit einem gewissen Vorwissen an die Lektüre; diese bringt dann neue Erkenntnisse, die in die Deutung des Inhalts einfließen und die später mit Hilfe einer erneuten Lektüre verifiziert oder falsifiziert werden; der zweite Durchgang der Lektüre beginnt dann schon mit einem größeren Vorwissen und so weiter ad infinitum.
„Das Grundmodell des Verstehens, zu dem Gadamer schließlich in Wahrheit und Methode gelangt, ist das des Gesprächs.“ Das Gespräch mit dem Fremden, die ergebnisoffene Begegnung mit dem Wissen, dass auch Ergebnisse niemals endgültig sein können, sowie die grundsätzliche Bereitschaft zum Austausch in wechselseitigem Respekt: das ist für Bauman der „Königsweg zu gegenseitigem Verstehen“.
Zygmunt Baumans Essay über die Angst vor den Anderen und über die Anderen ist ein letzter und wichtiger Beitrag dieses bedeutenden Soziologen. Bauman starb im Januar 2017 in seinem Haus in Leeds. Er war einer der wichtigsten Denker unserer Zeit. Sein Appell für die Gesprächsbereitschaft gegenüber den Migranten ist auch ein Appell an die Menschlichkeit sowie eine Erinnerung an die Verantwortung, die wir alle gegenüber diesen Schutzbefohlenen haben. Es ist unsere Pflicht, das Menschenmögliche zu unternehmen, um diesen Menschen auf der Flucht zu helfen, anstatt uns aus einer diffusen Angst vor dem Anderen abzugrenzen.
Kultur bedeutet Austausch, und Vielfalt war schon immer eine Bereicherung. Gewähren wir also im Sinne Kants allen Migranten ein Besuchsrecht und suchen wir im Sinne Gadamers immer wieder das Gespräch mit ihnen!
Autor: Zygmunt Bauman
Titel: „Die Angst vor den Anderen — Ein Essay über Migration und Panikmache“
Taschenbuch: 125 Seiten
Verlag: Suhrkamp Verlag
ISBN-10: 3518072587
ISBN-13: 978-3518072585