Es scheint letztlich eine Bestätigung des Materialismus zu sein, wenngleich in umgekehrter Richtung: Wir brauchen das Materielle, das Analoge, wie es David Sax im Gegensatz zum Digitalen nennt, welches alle Lebensbereiche durchdringt, das Analoge allzu gerne verdrängen möchte und am Ende an dieser Aufgabe scheitert. Das Ephemere, das Scheinbare und Virtuelle, das Transparente und allzu Durchsichtige des Digitalen bleibt am Ende nur ein Sublimat, ein Supplement der analogen Wirklichkeit.
David Sax hat mit seinem „Lob des Analogen“, wie man seine Abhandlung auch nennen könnte, ein Plädoyer für die Realität geschrieben. Eigentlich ein überflüssiges Unterfangen, wie es zunächst scheint, sind wir alle doch immer auch Teil dieser Realität, selbst wenn wir uns rund um die Uhr vor einem PC aufhielten und den Blick nicht vom Bildschirm abwendeten. Schließlich besitzen wir einen Körper, bestehen aus Fleisch und Blut, haben körperliche Bedürfnisse, brauchen die Luft zum Atmen und Nahrung zum Leben und so weiter.
Doch so tief steigt Sax gedanklich gar nicht in die Fundamentalität unserer Materialität hinab, schließlich ist sein Buch keine philosophische Abhandlung, sondern ein sehr unterhaltsames und gut recherchiertes Sachbuch. David Sax ist ein freilaufender kanadischer Journalist und Autor zahlreicher Sachbücher. Er schreibt für die New York Times, Bloomsberg Businessweek und Saveur. Dementsprechend locker und leicht kommen seine Texte daher; Sax ist ein Schreibprofi, ein Wissenschaftsjournalist par excellence, der es versteht, auch komplizierte Sachverhalte in eine verständliche Sprache zu übersetzen.
Schaut man sich das Autorenfoto an, so lächelt einem einer dieser netten, durchtrainierten und dynamischen Jungs an, Typ Mark Zuckerberg. Doch selbst wenn das Buch bei aller Freude an der Beschäftigung mit dem Analogen mitunter in einen unkritischen Jubelton in Bezug auf die digitalen Errungenschaften unserer Zeit verfällt, schafft es Sax, die Balance zu halten zwischen einer technophilen Lobpreisung des Digitalen und einer am Analogen geschulten Freude am Retro.
„Die Rache des Analogen“ (Originaltitel: „The Revenge of Analogue“) klingt ein wenig nach „Die Rache der Jedi-Ritter“ oder „Das Imperium schlägt zurück“, vielleicht ist das gewollt. Doch handelt es sich vielmehr um eine Rückkehr als um eine Rache, wenn auch das Digitale zunächst in vielen Bereichen das Analoge zunächst nahezu vollständig verdrängt hatte. Doch Rache können nur Lebewesen üben (in der Regel: Menschen), Dinge existieren einfach nur.
Widerspruch würde an dieser Stelle sofort von Bruno Latour kommen, der von der Wechselbeziehung zwischen Dingen und Menschen überzeugt ist, was ja auch nicht von der Hand zu weisen, allerdings an dieser Stelle ziemlich überflüssig zu erwähnen ist. Bei der gegenseitigen Beeinflussung von Dingen und Menschen (Latour et al. Sprechen vom ANT-Netzwerk und von der Akteur-Netzwerk-Theorie) handelt es sich um eine ziemlich spezielle philosophische Konstruktion sowie um eine moderne Spielwiese für Theoretiker und Freunde der Analytischen Philosophie.
Doch zurück zu den Dingen und zur Welt des Analogen — oder besser: zur Realität. Das Buch ist in zwei große Abschnitte unterteilt: Im ersten Teil beschäftigt sich der Autor mit den wiederkehrenden Dingen — die Rückkehr des Vinyls, des Papiers, des analogen Films und der Brettspiele. In diesem Teil beschreibt Sax die kanadische Situation in Toronto, der Stadt, in der er mit seiner Frau lebt. Doch spannender als diese Reminiszenz an die analogen Medien ist der zweite Teil, der sich mit der „Rache der Ideen“ auseinandersetzt.
Die Rache analoger Ideen manifestiert sich in der Rückkehr totgeglaubter Wirtschaftszweige, überkommener Handlungen und sozialer Räume. So wird die Renaissance des Prints, der Druckerzeugnisse und der mit ihr verbundenen Distributionswege, wie dem Ladengeschäft, untersucht. Insbesondere die Rückkehr und Neugeburt des Einzelhandels sowie die Spezialisierung auf regionale und lokale Angebote sind hier bemerkenswert. Auch die Handarbeit, sei es im privaten Ambiente, sei es als Businessidee, erfährt seit einiger Zeit eine Renaissance. Nicht zuletzt die Schule als sozialer Raum für Interaktionen wird erblüht den Verzicht auf bzw. als Ergänzung von digitalen Lernangeboten wieder zu neuem Leben.
Diese Liste ließe sich beliebig weiterführen und belegt einen Trend hin zum Analogen. Es ist auch naheliegend und selbstverständlich, dass Menschen auf die Annehmlichkeiten der realen Welt um sich herum nicht verzichten können und auch nicht wollen. Die vom Marketing versprochene digitale Erlösung findet nicht statt. Aus jenem Immer-alles-und-Jederzeit, jenen digitalen Versprechen der Allgegenwärtigkeit und Allverfügbarkeit entstehen eben auch jene Gefühle der eigenen Überforderung und letztlich auch der Beliebigkeit des Allverfügbaren.
Indem ich immer und überall alles abrufen kann, verliert dieses Abrufbare an Wert; es wird am Ende wertlos, weil es nur noch eine Wahl aus einer unendlichen Zahl von Möglichkeiten ist. Indem ich dieses Eine auswähle, mache ich es eben gerade nicht zu einem Erhabenen und Besonderen, sondern bestätige nur noch seine Belanglosigkeit und Austauschbarkeit. Ebenso hätte ich auch irgendetwas Anderes auswählen können, und es hätte keinerlei Unterschied gemacht.
Besonders einleuchtend wird dieser psychische Mechanismus der Entwertung, wenn wir uns den Unterschied zwischen einem Streaming-Dienst und einem Plattenladen klarmachen. Der Streaming-Dienst offeriert mir absolut unterschiedslos und gleichwertig (also gleich wertlos) Millionen von Songs, die ganze Palette aller Musikstile und Aufnahmen aus allen Dekaden, seitdem es Tonaufnahmen gibt, bis hin zu den allerneuesten Hits. In einem Plattenladen hingegen gibt es vielleicht einige Hundert oder tausend verschiedene Platten, alles Einzelstücke, mitunter auch antiquarische Raritäten. Die meisten kleineren Plattenläden sind zudem auf bestimmte Musikstile beschränkt. Und genau das ist das Stichwort: Beschränkung!
Der Mensch braucht ein gewisses Maß an Beschränkung, um seine Wahl aus diesem beschränkten Angebot zu etwas Besonderem zu machen. Gleichwohl brauchen wir alle fünf Sinne, um eine Wahl zu einem Akt der bewussten Entscheidung zu machen; bei einem Klick auf einen Button passiert im Hirn des Klickenden nicht allzu viel; aber wenn wir eine Platte finden, die uns gefällt, die wir aus der vielleicht unübersichtlichen (aber eben begrenzten) Auswahl eines Plattenladens entdeckt und uns für sie entschieden haben, dann wird aus dieser Entscheidung, aus diesem Kaufakt, etwas wirklich Besonderes.
Wir suchen mit den Augen, hören die Musik, riechen die Verpackung, das Vinyl, greifen mit beiden Händen die Platte, begutachten das Cover, pusten vielleicht den Staub von der Platte — mit anderen Worten: Wir sind mit allen fünf Sinnen bei der Sache. Und das war nur der Kaufakt! Zuhause legen wir die Platte auf unseren Plattenspieler, genießen auch das vorsichtige Aufsetzen des Tonarms, hören und genießen das Knistern, dann die Lieder der einen und der zweiten Seite. Auch hier liegt gerade in der Beschränkung wieder der Gewinn und der Genuss.
In den letzten beiden Kapitel zeigt David Sax, dass das Analoge auch im Digitalen mehr und mehr Einzug hält. Er meint damit vor allem jene Achtsamkeits- und Meditationskurse, wie sie immer häufiger für die Mitarbeiter von Digitalunternehmen im Silicon Valley und auch anderswo angeboten werden. Die digitalen Überflieger sollen und wollen wieder mit sich selbst, mit ihren Kollegen und mit der Welt da draußen (jenseits der Bildschirme) in Verbindung, in Fühlung gebracht werden.
Ähnliches passiert mittlerweile nicht nur in jenen Unternehmen, sondern hat auch im Zuge der Selbstoptimierungs-Strategien im Alltag vieler junger Menschen einen Platz eingenommen. Es wird allerorten Digital Detox praktiziert, es gibt an allen Ecken gute Tipps für die digitale Abstinenz und für einen reflektierteren Umgang mit den digitalen Helferlein. Immer mehr Restaurants, Zugabteile und andere Orte werden zu „handyfreien Zonen“, in denen ein Telefonieren nicht erwünscht ist. Man will nicht ständig was auf die Ohren kriegen. Diese Entwicklung ist grundsätzlich zu begrüßen, doch es wird sich noch zeigen, ob sich die neuen Verhaltensregeln auch durchsetzen werden.
„Die Rache des Analogen“ ist ein spannend geschriebenes Buch über unsere Alltagswelt, über das Digital Business und seine analogen Konkurrenten. Nicht selten ergänzen sich beide Welten zu einer sehr modernen und anbieterfreundlichen Melange. Das Buch von David Sax liest sich spannend und birgt auch viele neue Anregungen für den eigenen Umgang mit den digitalen und analogen Medien. Obendrein macht die Lektüre Spaß und Lust darauf, Neues auszuprobieren, auch wenn es vielleicht gerade das Alte ist. Wer also noch einen Plattenspieler sein Eigen nennt, sollte ihn schleunigst aus dem Keller holen, abstauben, anschließen und sich zur Lektüre seine Lieblingsplatten auflegen — für den sinnlichen Genuss des Analogen!
Autor: David Sax
Titel: „Die Rache des Analogen — Warum wir uns nach realen Dingen sehnen“
Gebundene Ausgabe: 316 Seiten
Verlag: Residenz
ISBN-10: 3701734070
ISBN-13: 978-3701734078