Steffen Mau: „Das metrische Wir – Über die Quantifizierung des Sozialen“

Wenn Jungs in ein bestimmtes Alter kommen, vergleichen Sie nach dem Schulsport unter der Dusche die Längen ihrer Penisse. Wahrscheinlich handelt es sich um eine der vielen anthropologischen Konstanten, die unser aller Leben begleiten. Menschen verfügen über eine eingebaute Neigung, sich mit anderen zu vergleichen. Nur so kommen wir unserer eigenen Identität auf die Spur.

Die Quantifizierung aller Lebensbereiche gehört zu den am meisten diskutierten Themen der letzten Jahre, zurecht. Mithilfe unserer kleinen elektronischen Fußfesseln, die wir den ganzen Tag bei uns tragen, können wir die eigenen Lebensdaten so genau und lückenlos erfassen wie niemals zuvor. Was die Sinnhaftigkeit einer solchen Prozedur betrifft, so wird danach nicht gefragt: Warum leckt sich der Hund seinen Schwanz? – Weil er es kann. Genau so ist es mit der flächendeckenden Erfassung unserer Daten: Sie werden erfasst und gespeichert, aggregiert und weitervermarktet. So ist das in der schönen neuen Welt des Digitalen.

Steffen Mau ist Makrosoziologe. Er forscht und lehrt an der Berliner Humboldt-Universität und befasst sich normalerweise mit einem anderen hoch aktuellen Makrotrend: der sozialen Ungleichheit. Nun hat er so ganz nebenbei ein Buch über die Quantifizierung des Sozialen geschrieben, und der Aspekt der Ungleichheit ist seine Perspektivierung des Themas.

Der Jubelchor der Industrie rühmt die technischen Möglichkeiten der kleinen digitalen Helferlein als eine große Errungenschaft im Kampf um die Gleichberechtigung aller Nutzer, also aller Menschen. Auf den ersten Blick mag man dem sogar zustimmen: Niemals zuvor war es jedem Einzelnen möglich, seine Biodaten so leicht und so genau zu erfassen wie heute; niemals zuvor konnte man am Ende eines Tages sehen, wie viele Tausend Schritte man gewandert und welche Strecken man dabei zurückgelegt hat; noch nie wussten wir besser über unseren Ruhepuls, unser Ernährungs- und Sexualverhalten Bescheid; niemals zuvor wurde selbst unser Schlaf so genau beobachtet und begutachtet wie heute! Und das sind nur einige der zahlreichen Körperwerte, die erfasst werden, wenn wir diese schicken Wristbands tragen – Tag und Nacht…

Hinzu kommen noch unsere Aktivitäten in den Sozialen Medien, unsere Online-Einkäufe, unser Suchverhalten, unsere Kontakte, Freunde, Likes und Dislikes usw. Wir stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit sowohl der Unternehmen, die mit unseren Daten handeln, als auch der staatlichen Institutionen, die dank Vorratsdatenspeicherung und der Akkumulation unserer Daten aus den verschiedensten Lebensbereichen in der Lage sind, ein ziemlich genaues Profil von uns zu erstellen. Man braucht nur wenig Fantasie um zu begreifen, dass seit der technischen Möglichkeit der Erstellung solcher Profile die Dystopie vom „gläsernen Menschen“ (wie er ursprünglich im Zusammenhang mit der Volkszählung 1982 geprägt wurde) längst Realität geworden ist.

Erschreckend ist für den Autor nicht zuletzt der Datenvoluntarismus der Menschen. Erstaunlich freigebig sind wir im Zusammenhang mit unseren Daten. Sobald wir etwas dafür bekommen, sind wir oft und gerne bereit unsere Daten zur Verfügung zu stellen. Das beginnt nicht erst bei kleinen Geschenken, Rabatten usw., sondern oft schon durch den Nutzen, den ich aus einer App ziehe, die ich auf mein Smartphone geladen habe: Indem ich diese praktische App benutze, liefere ich automatisch Daten an den Anbieter. Wenn ich bei Google Maps nach einem Weg suche, erfasst die App, dass ich nach jenem Weg suche usw. usf.

Es gibt viele, die in solchen Momenten schnell beschwichtigen und betonen, es sei alles doch gar nicht so schlimm. „Ich habe nichts zu verbergen“, ist hier wahrscheinlich die häufigste und auch blödeste Aussage, die man in Bezug auf den Datenschutz treffen kann. Denn im Grunde gibt es kein Recht auf digitale Selbstbestimmung, selbst wenn immer wieder vonseiten der Anbieter Anderes behauptet wird. Die einzig mögliche Form der Selbstbestimmung ist binär: Entweder nutze ich die Apps und lebe mit dem Datenklau – oder ich nutze sie nicht. Das Ausmaß der Datenausbeutung ist demnach nur ein gradueller – mal mehr, mal weniger.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Sprache: Die Unternehmen der Digitalbranche, die Apps produzieren, werden euphemistisch „Anbieter“ genannt. Ein Anbieter bietet mir etwas an – eine Leistung, ein Produkt, eine App. Ich kann sein Angebot annehmen. In dem Moment unterwerfe ich mich jedoch seiner ökonomischen Logik und damit in der Regel einem von ihm gesteuerten und zu seinem Nutzen generierten Ausbeutungsprozess. Meine Daten werden (im ungünstigsten Falle irgend wann einmal gegen mich) verwendet.

Solche Angebote gibt es natürlich auch in der realen (analogen) Welt: Ich abonniere ein Modellbau-Magazin, in dem es unter Anderem um Modelle für Kampfflugzeuge der Deutschen Wehrmacht geht. Selbst wenn mich diese Artikel gar nicht interessieren, könnte ich als langjähriger Abonnent eines solchen Magazins verdächtigt werden, mit rechtsradikalen Ideen zu sympathisieren. – Zu schräg gedacht?

Wenn jemand das Neue Deutschland abonniert, weiß man in aller Regel, um welche politische Orientierung es sich bei jenem Leser handelt. Nicht anders bei der taz, Compact, der Berliner Morgenpost oder der Süddeutschen. Wir hinterlassen auch in der analogen Welt unsere Spuren, das ist ganz normal: Was wir lesen, welches Auto wir fahren (vielleicht gar keines?), wo wir Urlaub machen, welche Dinge wir kaufen und welche nicht, welche Freizeitaktivitäten und welche Fernsehsendungen wir bevorzugen: all das lässt sich wie ein riesiges Puzzle zusammenstellen und malt ein Bild unserer Identität.

Die eigentliche Gefahr des digitalen Datensammelns liegt jedoch in seiner potenziellen Grenzenlosigkeit. Wenn alles möglich ist, wird alles Mögliche auch gemacht. Die Gesetze der digitalen Ökonomie sind simpel. Der Mensch bezahlt mit seinen Daten. Wir selbst sind das Produkt. Was zunächst wie ein Spiel aussieht, entpuppt sich bald als eine klassische Ausbeutungskonstellation mit entsprechend einseitigen Verwertungs-Mechanismen, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir letztlich einen hohen Preis für unsere Sorglosigkeit zahlen.

Doch wir haben immer noch nicht über den Aspekt der Ungleichheit gesprochen. Wie bereits gesagt, scheint die Bereitstellung technischer Möglichkeiten der Selbstvermessung für eine bislang nie gekannte Chancengleichheit zu sorgen. Doch schon auf den zweiten Blick wird dieses Versprechen als falsch entlarvt: Es liegt in der Natur der Sache, dass jede neu geschaffene technische Möglichkeit eine Sogwirkung entwickelt, die sich in einen Gruppenzwang wandelt. Beispiel:

Jedes neue Medium erzeugt eine Wettbewerbssituation und einen modischen Druck, sich dem neuen Medium zu unterwerfen. Wer seinerzeit nicht von der Vinylplatte zur CD wechselte (und heute zum Stream), wird im modischen Wettbewerb abgehängt. Wer nicht mitmacht, bleibt auf der Strecke. Das Tempo des technologischen und medialen Wandels hat sich in Zeiten tragbarer und allgegenwärtiger digitaler Geräte immer weiter beschleunigt.

Ganz ähnlich verhält es sich mit den Tools zur Selbstvermessung und den Apps der sozialen Medien. Ohne die Einspeisung der eigenen Datenpakete in die Ranking-, Scoring- und Rating-Systeme bleibt man ein digitaler Nobody; man ist unsichtbar, unvermessen und uninteressant. Wie gesagt: Der Mensch möchte sich vergleichen und kann nur auf diese Weise sehen, wo er steht. Das ist zunächst nichts Ungewöhnliches.

Erschreckend ist allerdings die zunehmende Einspeisung sensibler Daten, die man früher lieber für sich behalten hätte: Sexualverhalten, Ernährung, Schlafgewohnheiten… Indem ich diese Lebensbereiche für Andere (Anbieter, Krankenkasse, „Freunde“) transparent und vergleichbar mache, überschreite ich eine virtuelle Grenze. Ich gebe Teile meiner Persönlichkeit preis, die zuvor keiner Bewertung, keinem Vergleich, keine äußeren Kontrolle unterworfen waren. Wir sprechen hier von einem digitalen Sündenfall: Danach ist nichts mehr so wie zuvor.

Schon Michel Foucault hatte auf die Problematik hingewiesen, die mit der Schaffung eines Begriffs einhergeht. In dem Augenblick, wo ich einen neuen Begriff definiere, integriere ich ihn in ein Klassifizierungs- und Werte-System. Ich muss ihn von anderen Begriffen abgrenzen — nichts Anderes bedeutet „definieren“ — und durch diese Definition bekommt er eine Art Eigenleben innerhalb der bestehenden Machtstrukturen. Foucault beschrieb dieses Phänomen am Beispiel der Sexualität.

Was die vermeintliche Gleichheit der Startbedingungen betrifft, so wird schnell deutlich, dass es sich in der digitalen Welt nicht anders verhält als in der analogen: Menschen haben unterschiedliche Anlagen und Fähigkeiten; auch ihre individuellen Möglichkeiten der Selbstdarstellung sind alles Andere als gleich, und so werden jene Tools schnell zu Instrumente der Ungleichheit. Indem wir uns mit Anderen vergleichen, nehmen wir (und sie) unsere Verschiedenheit wahr.

Die Macht des Feedbacks spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle. Indem ich meine Werte veröffentliche, sie also für Andere einsehbar und somit mich vergleichbar mache, öffne ich einen Rückkanal für Feedbacks. In der verspielten Welt der digitalen Medien und Fitness-Apps sind solche Rückmeldungen und Bestätigungen durch eine oder mehrere externe Instanzen ausdrücklich erwünscht. — „Schaut her, was für tolle Werte ich habe!“ Es ist der freiwillige Verzicht auf Autonomie zugunsten eines heteronomen Datenvergleichs.

Schon längst haben die sozialen Medien und Apps die Funktion autonomer Identifikation übernommen. Die digitale Identität eines Menschen gleicht mehr einem Patchwork von Mitgliedschaften in Communities und definiert sich durch seine digitalen „Freunde“ sowie durch die „Likes“, die er für seine Posts erhält, als dass er seine Persönlichkeit in einem reflexiven Prozess der autonomen Selbstfindung entwickelt.

Steffen Maus Buch über die Quantifizierung des Sozialen ist reich an Fakten und anschaulichen Beispielen. Der Text ist auch für Laien leicht verständlich und beleuchtet alle wichtigen Aspekte jenes omnipräsenten Phänomens der digitalen (Selbst-)Vermessung. Spannend geschrieben, am Puls der Zeit und abgerundet durch ein umfangreiches und sehr breit aufgestelltes Literaturverzeichnis, ist dieses Buch bestens geeignet, den aktuellen Verwertungsprozess in der Digitalen Ökonomie vor Augen zu führen und auf die Probleme hinzuweisen, die durch einen allzu sorglosen Umgang mit den eigenen Daten entstehen können.

 

Autor: Steffen Mau
Titel: „Das metrische Wir – Über die Quantifizierung des Sozialen“
Broschiert: 308 Seiten
Verlag: Suhrkamp Verlag
ISBN-10: 3518072927
ISBN-13: 978-3518072929