Sie kennen das: man ist dem Ziel ganz nahe – sei es, dass man endlich eine Ruhe hat vor dem wilden Weltgetriebe; sei es, dass man alle Voraussetzungen geschaffen hat, um jetzt endlich, endlich… – und dann kommt doch wieder irgendetwas dazwischen! – Wie Tucholsky schreibt: „Etwas ist immer. Tröste dich. / Jedes Glück hat einen kleinen Stich. / Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten. / Daß einer alles hat: / das ist selten.“
Tucholsky geht immer. Ähnlich wie „Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke“ sind auch Tucholskys Gedichte stets ein wohltuender Balsam für die geschwächte Seele des vom Tempo des modernen Lebens zermürbten Großstädters. Aber auch in Liebesdingen weiß Tucholsky guten Rat. Man sah es dem kleinen dicken Berliner gar nicht an, wie faustdick er es hinter den Ohren hatte! Zwischen den Zeilen raschelt leise so mancher Unterrock. Aber vielleicht war es auch alles nur Idel und gar nicht Wirklichkeit? In seinem Gedicht „Die arme Frau“ schreibt sie, die Seine, über ihn, ihren „dicken Mann, den Dichter“, dass er seine Abenteuer nur auf dem Papier erlebe und nicht im wahren Leben; dort läge er vielmehrt nur „faul und fett und so gefräßig“ herum. „Und dabei gluckert er unmäßig / vom Rotwein, den er temperiert.“
Die Wirklichkeit dürfte irgendwo zwischen diesen Zeilen und seinen Weibergeschichten liegen. Dass der Mann sehr kreativ und auch literarisch eine multiple Persönlichkeit war, dürfte hinlänglich bekannt sein: Mit „5 PS“, mit ganzen fünf Pseudonymen ging Tucholsky täglich an seine Schreibarbeit; anders hätte ihm auch keiner die verschiedenen Perspektiven, die unterschiedlichen Tonarten abgenommen, in denen er zu singen pflegte. Also machte er aus der Not eine Tugend und verfünffachte seine literarische Identität.
Tucholsky war ein Vielschreiber. Er schrieb für das Tageblatt, für den Vorwärts!, aber vor allem für die Weltbühne. Mehr als 800 seiner Gedichte erscheinen hier meist unter dem Pseudonym Theobald Tiger. „Dieser leutselige Menschenfreund macht es seinen Lesern einfach. Er holt sie zu Hause ab, in ihrem Alltag. Sie haben seine Zuneigung und sein Mitgefühl.“ schreibt der Herausgeber dieses hübschen neuen Bändchens, Günter Stolzenberger. – Recht hat er! Tucholsky war alles Andere als ein Dichter, der die Leute von oben herab ansprach und ihnen etwas Bildung einbläuen wollte. Er ging den umgekehrten Weg und holte die Leute dort ab, wo sie ihre Freizeit verbrachten: im Kino, im Kabarett, im Lunapark.
Diese Nähe zum Publikum, zum prallen Leben und zu den ewig menschlichen kleinen und großen Schwächen, all das macht die Aktualität dieser Gedichtsammlung aus. Das Meiste liest sich so, als ob es auch uns etwas anginge, und nahezu jeder und jede wird sich in Tucholskys Gedichten aus selbst wiederfinden können. Seine Lyrik klingt so modern und ist dennoch so untypisch für das, was heute unter Lyrik firmiert, dass es einem schon recht wehmütig ums Herzchen werden kann und man denkt: Ach, hätten wir doch heute einen solchen… – Ha´m wa aba nich´!
Tucholsky schrieb seine Gedichte, Lieder und Couplets so, wie den Leute (und auch ihm selbst) der Schnabel gewachsen war. Sein Anspruch war: Verständlichkeit und sein Instrument war die Berliner Schnauze. Man muss es so deutlich sagen, denn „Mundart“ klingt zu höflich. – Was dabei rausgekommen ist, kann man hier nachlesen. Brav gegliedert in fünf Abschnitte präsentiert sich hier eine hübsch frisierte Bettlektüre, die uns mehr als einmal am Einschlafen hindert, dann jedoch ein paar süße Träume beschert.
Autor: Kurt Tucholsky
Titel: „Irgendwas ist immer“
Gebundene Ausgabe: 208 Seiten
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
ISBN-10: 3423281197
ISBN-13: 978-3423281195