Edgar Allan Poe: „Unheimliche Geschichten – Herausgegeben von Charles Baudelaire“

Die meisten Leser kennen die Geschichten von Edgar Allan Poe oder zumindest einige der bekanntesten: „Der Untergang des Hauses Usher“, „Der Gold-Käfer“, „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ oder auch Poes berühmtes Gedicht „The Raven“. Doch kennen wir ihn wirklich?

Wer Poe im amerikanischen Original gelesen hat, kommt diesem Ziel deutlich näher als jene Leser, die sich auf eine deutsche Übersetzung dieses faszinierenden Schriftstellers verlassen müssen. Es ist der akribischen und einfühlsamen Arbeit des Übersetzers zu verdanken, wenn neben dem reinen sprachlichen Transfer des Inhalts auch etwas von der Form des Originals auf die Übersetzung abstrahlt.

Poe wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die jüngste Gegenwart immer wieder übersetzt. Nun gibt es noch eine weitere neue Übersetzung von Andreas Nohl. Ist das wirklich nötig? Was ist an dieser neuen Übersetzung anders?

„Eine Neuübersetzung ist immer dem Verdacht ausgesetzt, eigentlich überflüssig zu sein“, schreibt Herausgeber und Übersetzer Andreas Nohl in seinem Nachwort. „Oft muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, sie wolle die Vorgängerübersetzungen verdrängen“, ohne eigentlich Neues zu liefern. Doch genau dies ist bei dieser Neuübersetzung nicht der Fall. Denn sie hat nicht nur ihre Berechtigung, sondern ist auch überfällig, um die Virtuosität, Einzigartigkeit und nachhaltige Bedeutung von Poes Werk für seine Zeit besser herauszuarbeiten.

In Anlehnung an Poes literaturtheoretischen Text „The Poetic Principle“ versucht Andreas Nohl, mit seiner Übersetzung beim deutschen Leser einen „ästhetischen Gesamteindruck“ zu erzeugen, der dem englischen Original möglichst nahekommt.

Poes Schreibstil war für seine Zeit äußerst modern und gekennzeichnet von einer blumigen, weitausschweifenden Sprache, die auch gerne auf Verse, Zitate und andere Paratexte zurückgreift, die kunstvoll in den Text eingearbeitet werden. Viele Übersetzer versuchten, diesen arabesken Stil Edgar Allan Poes mit unterschiedlichem Erfolg zu imitieren.

Nohl schreibt hierzu: „Nun zeigt sich bei den jüngsten Ausgaben eine Tendenz, Poes
Erzählstil, der zweifellos manchmal etwas Manieristisches und satirisch Überdrehtes hat, künstlich zu historisieren, ja zu ‚barockisieren‘, so dass im Deutschen der seltsame Eindruck entsteht, wir läsen einen Autor aus einem künstlich herbeigezauberten 17. bzw. 18. Jahrhundert oder weniger Poes Texte auf Deutsch als selbst verfertigte Texte der Übersetzer.“

Nohls neue Übersetzung verfolgt einen anderen Ansatz. Ihm geht es nicht darum, wie andere Übersetzer Poes teilweise in einen historisierenden Stil zu verfallen, um auf diese Weise den Leser in jene vergangene Zeit zurückzuversetzen, in der Poes Geschichten spielen.

Vor allem Wollschläger und Arno Schmidt hatten sich aus heutiger Sicht in dieser Beziehung mit ihrer Übersetzung der Werke Poes am Ende der 1960er Jahre ziemlich verhoben; ihrer barockisierenden Sprache ist es zu „verdanken“, dass viele Leser Edgar Allan Poe auch heute noch als einen Erzähler zu kennen glauben, dessen Schreibstil vollkommen veraltet und verschroben ist. — Andreas Nohl hingegen versucht mit seiner Neuübersetzung gerade das Moderne an Poes Sprache und an seinen Sujets herauszuarbeiten: „Statt der Historisierung Poes geht es bei unserer Übersetzung eher um den Hinweis auf seine Modernität.“

Es gibt mehrere mögliche Ereignisse, an denen man den Eintritt in die literarische Moderne festmachen könnte; die Übersetzung und Herausgabe der Werke Poes durch Charles Baudelaire ist eine solche Epochenschwelle, und man darf mit gutem Recht behaupten, dass mit dieser Herausgabe der Beginn der literarischen Moderne markiert wird. Ohne zu übertreiben, darf man gleichfalls behaupten, dass es Charles Baudelaire zu verdanken ist, Poe dem europäischen Leser bekannt gemacht, ja sein Werk für die Nachwelt gerettet zu haben. Ohne Baudelaire keine Poe-Rezeption, ohne jene keine literarische Moderne in Europa, zumindest nicht zu dieser Zeit und in dieser Form.

Als Poes Geschichten in französischer Übersetzung erschienen, befand sich der Kontinent noch mitten im realistischen Zeitalter. Übertragen auf die deutschen Verhältnisse muss man exemplarisch an Adalbert Stifter, Wilhelm Raabe und den jungen Fontane denken. — Wie anders, wie neu, fremd und modern wirken dagegen die Sujets und die Sprache eines Edgar Allan Poe!

Stets umgab und umgibt die Person Edgar Allan Poes und seine Geschichten eine Aura des Düsteren und Mysteriösen. Diese Zuordnung seiner Werke zu den belletristischen Gattungen der Schauer- und Gruselgeschichten ist zwar nicht ganz falsch, muss jedoch an dieser Stelle vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Denn Poe war es selbst, der manchen literarischen Genres erst durch seine variantenreichen Geschichten in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Entstehen verhalf: Ohne Poe als Wegbereiter wäre ein Arthur Conan Doyle, ein Jules Verne, ein Bram Stoker undenkbar gewesen. Edgar Allan Poe darf zurecht als der Erfinder der Detektivgeschichten, der Science-Fiction und der Gruselgeschichten modernen Stils angesehen werden.

Was die Übersetzung von Andreas Nohl besonders auszeichnet, ist ihre Texttreue sowie sein Gespür für einen authentischen „Sound“ seiner Übersetzung. Verglichen mit älteren Übersetzungs-Versuchen, wirken manche Textpassagen sehr ähnlich (wie z.B. beim „Gold-Skarabäus“), andere wiederum weichen deutlich von älteren Übersetzungen ab (wie in der Erzählung „Metzengerstein“). Auf die Frage, was denn eigentlich eine gute Poe-Übersetzung heute leisten müsse, antwortet er in unserem Gespräch: „Mein Ziel ist, dem deutschen Leser möglichst das ästhetische Erlebnis zu vermitteln, das der Original-Leser hat, der heute in New York lebt und heute Poe liest! So soll der deutsche Leser auch den Poe lesen können!“

Dieser erste Band der Neuausgabe der Werke Edgar Allan Poes folgt der Auswahl von Charles Baudelaire, der sich seit 1847 intensiv und bis zu seinem Lebensende mit der Herausgabe und Übersetzung der Werke Edgar Allan Poes beschäftigt hat. Folgerichtig umfasst dieser erste Band neben den ausgewählten Texten Poes im Anhang auch mehrere Texte Baudelaires über Edgar Allan Poe, darunter einen sehr schönen und lesenswerten Essay.

Die gesamte Neuausgabe bei DTV ist auf fünf Bände konzipiert, die in den kommenden Jahren erscheinen sollen. Ohne Übertreibung darf man jetzt schon sagen, dass mit diesem ersten Band der Grundstein zu einer neuen und wirklich modernen Rezeption der Texte von Edgar Allan Poe gelegt wurde. Diese Übersetzung wird mehr als alle vorherigen dem amerikanischen Original am besten gerecht. Somit wird diese Werkausgabe mühelos zum neuen Standard für den „deutschen Poe“ avancieren.

 

Autor: Edgar Allan Poe
Titel: „Unheimliche Geschichten – Herausgegeben von Charles Baudelaire“
Gebundene Ausgabe: 424 Seiten
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
ISBN-10: 3423281189
ISBN-13: 978-3423281188