Es zählt jener Moment zu den schönsten im Berufsleben eines Rezensenten, wenn ein neues Buchpaket eintrifft. Schnell ist der unbekannte Schatz ausgepackt und bietet sich dem zukünftigen Leser an: noch ganz jungfräulich und in eine die Inhalte konservierende Folie eingeschweißt liegt das frische Rezensionsexemplar auf dem Tisch, den Rezensenten lockend und ihn einladend, die dünne Folie vorsichtig einzureißen und zu entfernen, die den Inhalt von seinem Leser trennt.
Walter Benjamin sprach in seiner Berliner Chronik ganz zurecht von jener „Beseligung, mit der man das neue Buch entgegennahm, kaum wagte, einen flüchtigen Blick hineinzuwerfen“. So geht es wohl jedem empfindsamen Leser, der von einem interessanten und verheißungsvoll klingenden Titel magisch angezogen wird, mit dem ein Buch sich seinem potenziellen Liebhaber auf verführerische Art zeigt und mit seinen Reizen nicht geizt.
So ergeht es mir mit jedem neuen Buchpaket, das ich aus den Vorschauen der großen und kleinen Verlage ausgewählt habe und dessen druckfrische Exemplare nach einer langen Weile des Wartens nun endlich bei mir eintreffen; ganz besonders geht es mir aber so, wenn ein neuer Auswahlband mit Kästner-Texten auf meinem Rezensenten-Tisch landet. So auch dieses Mal — bei dem neuen Band mit dem Titel „Verlobung auf dem Seil“.
Es ist bekannt, dass sich Kästner selbst ein Leben lang geweigert hat, in den Stand der Ehe zu treten, wohl aus gutem Grunde oder auch nur aus Rücksicht gegenüber der Damenwelt. Er war kein Kostverächter, im Gegenteil. Er hatte auch einige langjährige Beziehungen, doch der heilige Stand der Ehe war nicht sein Ding. Die Vorstellung einer lebenslangen Zweisamkeit schien ihn nicht überzeugt zu haben, und wie jeder weiß, spricht die Statistik auch nicht unbedingt für einen übermäßigen Erfolg dieser gesellschaftlichen Konstruktion. Doch sei´s drum! In seinem Umfeld fand der scharfe Beobachter jede Menge Material, das ihm ausreichend Gelegenheit bot, sich mit den zarten zwischenmenschlichen Beziehungen, ihren Höhepunkten und ihren Abgründen zu befassen.
Und so findet man die tollsten Geschichten, Anekdoten und Gedichte, die in der Mehrheit in Tageszeitungen und Zeitschriften erschienen sind, aber natürlich sind auch einige Kostproben aus seinen berühmten Büchern Herz auf Taille, Der tägliche Kram, Drei Männer im Schnee und sogar aus dem Interview mit dem Weihnachtsmann dabei. Zeitlich spannt sich der Bogen der Veröffentlichungen von 1923 bis 1958. Doch was diesen hübschen Band so besonders macht, sind einige bislang unveröffentlichten Texte aus dem Nachlass.
Ob unveröffentlicht oder bekannt, Kästners Texte sind immer wieder eine erneute Lektüre wert! Aber es kommt noch besser: Selbst angenommen, Sie kennen schon alle hier versammelten Texte, so lockt die zauberhafte und lockerleichte Buchgestaltung dieses fliederfarbenen Bandes zum Kauf! Wie alle Kästner-Bücher aus dem Atrium-Verlag, so ist auch dieser Band im Hardcover erschienen, schmiegt sich hervorragend an, schmeichelt den Fingern und lässt schon nach wenigen Zeilen das Herz des Lesers in die Taille rutschen.
Kurzum: Fackeln Sie nicht lange! Falls Sie demnächst beabsichtigen zu heiraten, kann dieses Büchlein Ihnen vielleicht (noch) helfen. Falls Sie niemals heiraten wollten, könnte Sie dieses Büchlein dazu verlocken, leichtsinnig zu werden. (Vielleicht ist es ja doch schön, verheiratet zu sein?) Und falls Sie weder zu der einen noch zu der anderen Fraktion gehören, erfreuen Sie sich einfach an Kästners leichter Literatur!
Jedoch „leicht“ (im Sinne von oberflächlich) sind Kästners Texte immer nur auf den ersten Blick, wenn man genauer hinschaut, erkennt man schnell, wie es zwischen den Zeilen blitzt: Hier ist ein ganz Großer am Werke, und es steckt sehr viel Arbeit in diesen leichten Texten. Anders gesagt: Es ist sehr schwer, leichte Texte zu schreiben. Es war Kästners Schicksal, oft als zu leicht befunden zu werden. Doch in dem Kerl steckte viel mehr, als man auf den ersten Blick ahnt!
Auch wenn er viele erfolgreiche Kinderbücher geschrieben hat, wäre es grundfalsch, ihn als Kinderbuch-Autor abzuspeisen. Nicht nur seine frühen Gedichtbände zeigten einen sehr erwachsenen Autor, der es faustdick hinter den Ohren hatte. Sein temporeicher Berlin-Roman Gang vor die Hunde zeigte schon früh das große schriftstellerische Potenzial Kästners: Selbst die gestutzte Version wurde unter dem Titel Fabian noch zu einem Bestseller.
Die hier zum Themenbereich „Heiraten und Ehe“ versammelten Texte berühren einen Aspekt des Liebeslebens, mit dem Erich Kästner zeitlebens auf Tuchfühlung war. Und mit Liebesdingen kannte er sich aus wie kaum ein Anderer. Diese Texte sind also von einem Experten verfasst, auch wenn er selbst, wie gesagt, niemals vor den Traualtar getreten ist oder gezogen wurde.
Autor: Erich Kästner
Titel: „Verlobung auf dem Seil — Vom Heiraten und sonstigen Schwierigkeiten“
Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
Verlag: Atrium Zürich
ISBN-10: 3855350159
ISBN-13: 978-3855350155