Gernot Böhme: „Ästhetischer Kapitalismus“

Es gab mal eine Zeit, in der die Aufgabe der Wirtschaft in erster Linie darin bestand, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen: Nahrung, Kleidung, Wohnen und ein wenig Freizeitgestaltung waren die Bereiche, für die produziert wurde. Nur die Ältesten unter uns dürften sich an diese Zeit des Mangels nach dem Krieg noch erinnern. Schon in den 1950er Jahren jedoch erlebte Deutschland ein Wirtschaftswunder; es wurde so viel produziert, dass nicht nur der einheimische Markt gesättigt war, sondern Deutschland als Exportweltmeister die ganze Welt mit deutschen Waren beglücken konnte.

Schnell sprach man von einer Überflussgesellschaft oder von einer Wohlstandsgesellschaft, in die sich das Land binnen weniger Jahre verwandelt hatte. Seitdem geht es nicht mehr vorrangig um das Stillen lebensnotwendiger Bedürfnisse, sondern um das Wecken von Begehrnissen, wie Gernot Böhme es nennt.

Die deutsche Wirtschaft, das gegenwärtige kapitalistische System, folgt unbeirrt dem Paradigma des Wachstums. Nur indem die Wirtschaft permanente Zuwächse generiert, kann der Wohlstand erhalten und ausgebaut werden, so das Mantra der Wirtschaft und die Vorgabe für alle politischen Entscheidungen.

Um jedoch ein solch permanentes Wachstum zu erzeugen, muss der Kapitalismus zu einem Trick greifen. Wenn nämlich alle Grundbedürfnisse gestillt sind und darüber hinaus die Wohlfühl-Aspekte des Lebens durch entsprechenden Konsum abgedeckt sind, gibt es keinen vernünftigen Grund für weitere Konsumaktivitäten. Wer schon ein Auto, einen Fernseher, einen Geschirrspüler, ein Handy, eine Mikrowelle, eine hübsche Wohnungseinrichtung besitzt, braucht eigentlich nicht mehr, um ein angenehmes und luxuriöses Leben zu führen.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich unsere Gesellschaft jedoch grundlegend verändert, ohne dass wir das bemerkt haben. Früher haben wir ein Produkt erworben, um es zu benutzen. Heute kaufen wir ein Produkt, um es zu zeigen und um uns mit ihm (oder durch seinen Kauf) zu inszenieren. Unser Leben wird zusammengebaut aus den unterschiedlichsten Waren und Accessoires, Mitgliedschaften und Freundesgruppen. Sowohl digital als auch analog stellen wir uns eine Personality zusammen, die weniger aus persönlichen Eigenschaften besteht, sondern vielmehr aus Produkten, mit denen wir uns schmücken und deren Kauf wir zelebrieren. Nur indem wir uns selbst inszenieren, werden wir von den Anderen wahrgenommen und können von ihnen bewertet werden.

Bewertet werden ist wichtig heutzutage. Nur wer bewertet wird, hat einen Wert. Bewertungen sind das neue soziale Kapital des 21. Jahrhunderts. Bewertet werden jedoch nicht persönlihe Eigenschaften, sondern die Waren, mit denen wir uns schmücken. So wird der Konsum vom Zweck zum Ziel. Die Inszenierung des Konsums wird Teil meiner persönlichen Präsentation, und der eigentliche Nutzen des Produkts wird zumindest zweitrangig. Sehen wir uns diese neue Entwicklung anhand eines typischen Beispiels an:

Freunde verabreden sich heutzutage in Einkaufszentren und Shopping Malls, um dort den Tag zusammen zu verbringen, gemeinsam einkaufen und essen zu gehen. Hierbei geht es in erster Linie nicht mehr um den Erwerb von Produkten, die ich gerne haben und nutzen möchte, sondern alles dreht sich nur noch um den Kaufakt selbst, der möglichst effektvoll inszeniert werden muss. So wird der Kauf des brandneuen Handys gefeiert wie ein Sieg, die Ausbeute beim Kleiderdiscounter wird in braunen Papiertüten herausgetragen und den Freunden präsentiert.

Immer geht es um die Präsentation der eigenen Kaufkraft und der besonderen persönlichen „shopping skills“. Ich kaufe, also bin ich. Der Gebrauchswert eines Produkts ist nebensächlich, sondern wird ersetzt durch dessen „Inszenierungswert“.

Da sich hierbei alles nur noch um das Erscheinungsbild, um die hübsche Verpackung und die glatten Oberflächen der neuesten Produkte dreht, die zum Kaufanreiz beitragen, hat Gernot Böhme für die aktuelle Entwicklungsstufe des Kapitalismus den schönen wie passenden Begriff des „ästhetischen Kapitalismus“ gefunden. Wenn nur noch ästhetische Kriterien gelten, werden andere Produkteigenschaften wie Handhabung, Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit usw. zu sekündären und fast zu vernachlässigenden Merkmalen! Was zählt, ist das Design und der Inszenierungswert des Produkts. – Um immer neue Begehrnisse zu wecken, gestaltet die Wirtschaft immer ästhetischere Produkte mit immer neuen technischen Features, Produkte, deren Halbwertzeit kaum länger dauert als bis kurz nach ihrem Kauf.

Der Konsum als Mittel der Selbstdarstellung findet seinen idealen Ort in der Shopping Mall, jener kleinen überdachten Stadt aus Ladengeschäften und Restaurants, Begegnungszonen und Einkaufsmöglichkeiten. Böhme sieht ihren Beginn in den Passagen von Paris, mit denen sich Walter Benjamin beschäftigt hatte. Doch anders als die dunklen Passagen, die noch überdachten Straßen ähnelten und mit ihren verwinkelten Gängen jenem neuen Phänomen großstädtischen Lebens, dem Flaneur, eine willkommene Gelegenheit zum Entdecken boten, sind die heutigen Shopping Malls in große, helle und übersichtliche Ebenen unterteilt, deren Charakter eher einer Piazza entspricht, auf der man verweilen und sich umschauen kann, ohne sich fortbewegen zu müssen.

Anders als der klassische Flaneur sind die modernen Shopping-Flaneure auch oft nicht mehr im langsamen Tempo unterwegs, um sich von den Reizen der Straße verführen zu lassen und ohne zu wissen, wohin sie der Weg führt. Der moderne Flaneur der Shopping Malls verdient diese Bezeichnung eigentlich nicht mehr, denn das Flanieren ist ihm zum Jagen geworden. Durch die Demokratisierung der Flanerie in Zeiten des omnipräsenten Überangebots wird das Einkaufserlebnis zum Ersatz für die Entdeckungen des Flaneurs.

Gernot Böhme vergleicht den Kunden der neoliberalen Shopping-Höllen mit dem Flaneur; diese Ansicht lässt sich jedoch nur auf einen ersten, flüchtigen Blick teilen. Betrachtet man oberflächlich das Verhalten der Menschen in den Shopping Malls, so scheint es auf den ersten Blick dem Flanieren nicht unähnlich: Der Einzelne schlendert langsam durch die Ebenen, macht mal hier, mal dort Halt und schaut, lässt sich von den Auslagen inspirieren. Scheinbar ziellos nimmt er seinen Weg durch die Mall; und doch ist es keine Flanerie im eigentlichen Sinne, was er da treibt.

Nehmen wir zum Beispiel die Definition, welche Honoré de Balzac in seiner Physiologie der Ehe (1829) vom Flaneur gibt: „Flanieren heißt genießen, heißt geistreiche Beobachtungen einheimsen, heißt erhabene Gemälde des Unglücks, der Liebe, der Freude, anmutige oder komische Porträts bewundern, heißt seine Blicke in die Tiefen von tausend Existenzen tauchen“. Der Flaneur der klassischen Moderne ließ sich von den Straßen der Großstadt verleiten; er spürte schemenhaften Zeichen nach, ließ sich von Verheißungen locken, folgte den Spuren menschlicher Schicksale. Der Flaneur las, wie Vicotor Hugo es schrieb, in der Stadt „wie in einem steinernen Buch“; der Flaneur war neugierig und betrachtete das bunte Treiben des Großstadtlebens wie ein Kunstwerk; ja, er brachte diesem Treiben ein „interesseloses Wohlgefallen“ entgegen.

Jedoch der moderne Flaneur der Shopping Malls ist nur auf Konsum aus; jede Handlung ist bei ihm auf den Konsum hin orientiert, und er ist weder an menschlichen Schicksalen noch an Entdeckungen abseits ihrer ökonomischen Relevanz interessiert. Selbst wenn er teilnimmt am Erlebnis-Shopping, an Sales-Events oder in die kpnstlichen paradiese der Warenwelt eintaucht, so geschieht dies niemals allein um ihrer selbst willen, sondern allein zum Zweck des Konsums. Mit anderen Worten ist der Shopping-Flaneur eine degenerierte Form des Flaneurs, ein typischer Vertreter jener depravierten sozialen Verhältnisse in der Welt des ästhetischen Kapitalismus.

Die jetzt unter dem Titel „Ästhetischer Kapitalismus“ versammelten Aufsätze Böhmes befassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Phänomen dieses neuen Konsumentenverhaltens. Der Autor versucht sich an einer Theorie einer nur noch an der Ästhetik orientierten Ökonomie, der es um die permanente Weckung von Begehrnissen geht und nicht mehr um die Stillung von Konsumenten-Bedürfnissen.

Interessanterweise ändert sich infolge jener Transformation der Wirtschaft von den Bedürfnissen zu den Begehrnissen auch das Verhalten der Konsumenten selbst. War die Wirtschaft früher bemüht, den Wünschen der Konsumenten möglichst genau zu entsprechen, so versuchen heute umgekehrt die Konsumenten sich möglichst passgenau den Angeboten der Wirtschaft anzupassen.

Lifestyle wird heute durch den Konsum selbst und durch seine möglichst perfekte Inszenierung gelebt. Die Wirtschaft bietet ein Shopping-Erlebnis; der Konsum selbst wird zum atmosphärischen Event, und indem ich mich selbst im Kauf-Moment dieses brandneuen Produkts in Szene setzen kann, hat der Konsum als solcher schon seine Aufgabe erfüllt. Was danach mit dem gekauften Produkt passiert, ist sekundär.

Die hier versammelten Beiträge beschreiben, wie gesagt, das Thema von verschiedenen Seiten und für unterschiedliche Leserschaften. Dadurch sind Wiederholungen und Redundanzen nicht zu vermeiden. Diese Wiederholungen sind jedoch nicht all zu störend, sondern erhöhen sogar den Lerneffekt, auch wenn man sich manchmal gewünscht hätte, dass wortwörtliche Wiederholungen wenigstens leicht variiert worden wären.

Anders als viele wirtschaftstheoretische Texte lesen sich Böhmes Beiträge wunderbar leicht und sind gut verständlich. Anhand zahlreicher konkreter Beispiele veranschaulicht Böhme in seiner Kritik der ästhetischen Ökonomie, wie sehr wir uns in Zeiten des ästhetischen Kapitalismus nur noch mit den Oberflächen, Atmosphären und Inszenierungen von Kauferlebnissen beschäftigen.

Wie lässt sich also aus diesem Teufelskreis des Immer-Mehr ausbrechen? Böhme sieht eine theoretische Chance zur Umkehr in einem Ausstieg aus dem kapitalistischen Denken selbst. Indem wir einen Paradigmenwechsel vollziehen vom Wachstumsdenken zum Nachhaltigkeitsdenken, könnten wir auch den Konsum neu denken. Dies würde jedoch unter Anderem mit einer Abkehr von unserer derzeitigen Wirtschaftspolitik sowie mit einem Bruch mit den Usancen der globalisierten Ökonomie einhergehen.

Das Zauberwort hieße Askese – nicht verstanden als „Einschränkung“, sondern in seiner ursprünglichen Bedeutung als „Übung“. Wir müssten wieder den richtigen Konsum üben und unser Selbstwertgefühl nicht auf dem Konsum aufbauen. Bis dahin ist es jedoch ein weiter Weg.

Erst in einer Gesellschaft, in der es nicht mehr nötig ist, sich selbst zu inszenieren, um etwas zu gelten, wird eine Abkehr von den für die Inszenierung so unerlässlichen Begehrnissen hin zu den eigentlichen Bedürfnissen möglich. Wenn der Konsum nicht mehr dem Selbstzweck dient, sondern zum Ziele der Nutzung eines Produkts getätigt wird, wird sich der Kapitalismus in seiner ästhetischen Ausformung zurückentwickeln zu einer rationaleren Variante.

Damit einhergehen würde eine rückläufige Wirtschaftsentwicklung mit entsprechend verminderten Profiten und niedrigeren Produktivitätsraten. Was einerseits mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und mit einem Rückgang der Kaufkraft verbunden wäre, könnte andererseits auch die Ressourcen schütze und die Umwelt weniger belasten. Das heute noch vonseiten der Wirtschaft und der Politik geforderte Immer-Mehr würde abgelöst durch eine verantwortungsbewusstere Form des nachhaltigen Denkens und Wirtschaftens.

 

Autor: Gernot Böhme
Titel: “Ästhetischer Kapitalismus”
Taschenbuch: 160 Seiten
Verlag: Suhrkamp Verlag;
ISBN-10: 3518127055
ISBN-13: 978-3518127056