Wie fühlt es sich an, wenn man von einem Moment auf den anderen aus der Zeit gefallen zu sein scheint? Wenn alles um einen herum seine vordergründige Sinnhaftigkeit verliert und man quasi mit Röntgenaugen durch die Oberflächen hindurchsehen kann und versteht, was alles bedeutet. Dann wieder gar nichts versteht. Und doch begreift, dass man in einem falschen Film mitspielt, in einem falschen Leben gefangen ist.
„Doch die Distanz, die man zu jedwedem Gefühl bekommen hat, das Misstrauen anderen und erst recht sich selbst gegenüber, sind nicht wegzutherapieren.“ Das schreibt Rosa, die Ich-Erzählerin dieses Romans von Barbara Kenneweg in einem anderen Zusammenhang, aber man könnte es auch als eine ziemlich exakte Zustandsbeschreibung ihrer aktuellen Lebenssituation verstehen.
Rosa Lux ist ausgestiegen. Sie hat alles hingeschmissen. Einen solchen Moment, an dem die Welt stillsteht, weil alles um einen herum in rasendem Tempo durcheinanderwirbelt, erleben viele von uns. Irgendwann wird alles zu viel, zu unsinnig. Immer so weitermachen, ist keine Option. Die meisten steigen aus und hauen ab. Brechen mit Freunden, Familie und dem Job und flüchten sich in eine möglichst weitentfernte Region am anderen Ende der Welt. Um dort zur Ruhe zu kommen. Kraft zu tanken und den Mut zu finden, wieder nach Hause zurückzukehren: mit neuen Ideen, neuen Träumen und neuer Zuversicht.
Die Ich-Erzählerin dieses Romans geht den umgekehrten Weg, denn sie geht nicht weg, reist nicht um die Welt, sondern kauft sich von einer kleinen Erbschaft ein „Haus für eine Person“, denn mehr ist es nicht: ein kleiner schäbiger Bungalow, 55 qm, in einer heruntergekommenen und vergessenen Siedlung im tiefen Osten Berlins. Ohne Internet, ohne Fernseher, zurückgezogen und ausgeklinkt, ja zurückgeworfen auf die eigene fragwürdige Existenz.
Die Wohngegend ist ruhig, sehr ruhig. Die Nachbarschaft ist überschaubar. Da sind nur die uralte, aber rüstige Frau Paul, die sie leiden kann, und Herr Scholl, den sie nicht leiden kann. Ansonsten verirren sich nur wenige Leute in diese Gegend. Was hätten sie auch hier verloren?
Verloren hat Rosa den Bezug zur Realität oder besser: den Bezug zu ihrem alten Leben. Als ob ein Vorhang zerreißt und man plötzlich in einer völlig fremden Umgebung steht. Nichts ist mehr sicher, nichts mehr so, wie es war. Rosa denkt nach und sucht nach einem neuen Sinn – für den heutigen Tag, für morgen und für den Rest ihres Lebens.
Der Leser taucht ein in den Gedankenstrom dieser jungen Erzählerin. Rosa denkt viel nach, hat ja auch Zeit. Sie reflektiert ihre Umwelt und versucht in allem, was um sie herum geschieht, einen Sinn, ein Dahinter zu entdecken. Oft gelingt es ihr nicht, aber schon tragen sie ihre Gedanken weiter, von Assoziation zu Assoziation geht die permanente Reise.
Rosa ist schwanger. Zunächst hat sie nur so ein komisches Gefühl, dann wird daraus Gewissheit, und die Welt stellt auf einmal ganz neue Fragen, auf die niemand gewartet, die niemand erhofft hatte, schon gar nicht Rosa selbst.
Das Kind muss von Olaf sein, ihrem Freund, den sie ebenfalls verlassen hatte, als sie mit ihrem bisherigen Lebenschaos Schluss gemacht hat. Olaf ist mit der Trennung anders umgegangen, hat sich ins nepalesische Hochland zurückgezogen. So fern die beiden voneinander sind, so schwierig gestaltet sich ihre Kommunikation. Doch sie wäre auch nicht viel besser, wenn sie sich direkt gegenüberstünden.
Rosa will frei sein, und sie möchte diese Freiheit auch für alle anderen Menschen wiederhergestellt wissen. Denn wir leben ja in einer unfreien und heteronomen Welt, auch wenn es den Anschein hat, als ob wir immer und überall die freie Wahl hätten: „Unser größter Irrtum ist der Glaube, dass die Menschen kontrolliert werden müssen, beschnitten, bevormundet und belogen, weil sie es selbst so wollen, dass man ihnen Wegweiser, Schranken und Stacheldraht ins Leben stellen muss, weil sie das brauchen, um sich wohl zu fühlen“, denkt Rosa wütend. Diese Bevormundung, Beschneidung und Kontrolle der Freiheit begegnen ihr auf Schritt und Tritt.
Es ist die Geschichte eines Sommers, von März bis November begleiten wir Rosa Lux auf ihrem Weg; es ist ein Weg nach innen, in geheimnisvolle Welten, die sich einem auftun, wenn man es zulässt, ganz auf sich selbst zurückgeworfen zu werden. Es ist ein Weg nach innen, und doch steht (und entsteht) am Ende etwas Neues. Mit der Geburt ihrer Tochter beginnt ein neues Kapitel, eine neue Geschichte im Leben der Rosa Lux. Jene Geschichte wird nicht mehr erzählt, man muss sie selbst weiterdenken, sie sich selbst erzählen.
Wer diesen Roman mit einem offenen Herzen liest und sich darauf einlässt, die Gedanken der Autorin nachzuvollziehen, die sie der Protagonistin Rosa in den Mund legt, der wird eine interessante Erfahrung machen: Er wird beginnen, sein eigenes Leben zu hinterfragen. Erst an einer vielleicht ganz unbedeutenden, aber naheliegenden Stelle; dann bestünde die Möglichkeit, diesem neuen Pfad zu folgen, nur ein kleines Stück weit, das reicht schon, und von dort aus geht es dann weiter, weiter und immer weiter.
Auf diese Weise lösen wir uns aus unseren Zwängen und können uns als der distanzierte Beobachter unseres eigenen Lebens frei in Raum und Zeit bewegen. Diese Distanz ermöglicht uns einen objektiven Blick auf unser eigenes Leben – oder zumindest einen etwas objektiveren Blick. Jedoch was wir dann aus diesen neuen Erkenntnissen machen, bleibt uns selbst überlassen. Aber es eröffnet uns die Möglichkeit, das Leben in seiner Komplexität und Großzügigkeit zu begreifen und zu verstehen, dass es immer mehrere Wege gibt, die einem Leben Sinn verleihen und es lebenswert machen.
Autor: Barbara Kenneweg
Titel: „Haus für eine Person“
Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
Verlag: Ullstein Hardcover
ISBN-10: 3550081774
ISBN-13: 978-3550081774