Wenn man die Stichworte „Grandhotel“ und „1900“ hört, spulen sich vor dem geistigen Auge sofort die entsprechenden Filmszenen ab: mondäne Gesellschaften, die sich in großzügigen Hotelhallen und opulent ausgeschmückten Speisesälen treffen; Treffpunkte für die High Society; Kristallisationspunkte der Urbanität; unbeschreiblicher Luxus und exklusive Räume für ein weltgewandtes Publikum; eine perfekte Bühne für Dandys und halbseidene Schönheiten; Auftrittsorte und Meeting Points für die Aristokratie und den Geldadel.
Auch die Literatur hat uns mit vielen Klischees versorgt, die unsere Vorstellung davon prägen, was in den Luxushotels der Zeit um 1900 vor sich ging, wer dort residierte und wie sich das Leben im Hotel abspielte. Filme und Literatur prägen unser Bild und unsere Vorstellungen vom Luxushotel und vom mondänen Treiben in den Grandhotels der Metropolen der klassischen Moderne.
Doch entsprechen diese medialen Bilder auch der historischen Realität? Der Historiker Habbo Knoch hat sich diese Frage gestellt und sich intensiv mit der Kulturgeschichte der Grandhotels um 1900 beschäftigt. Das Ergebnis dieser Forschung liegt seit einer Weile in Form eines umfangreichen Buches im Wallstein-Verlag vor: 496 prall gefüllte Seiten mit zahlreichen Abbildungen sowie mit einem umfangreichen Apparat und Literaturverzeichnis, wie es sich für die wissenschaftlichen Publikationen im Wallstein-Verlag gehört.
Habbo Knoch hat sich in seiner Untersuchung auf drei zentrale Orte der klassischen Moderne um 1900 konzentriert: New York, London und Berlin. Diese Beschränkung ist durchaus sinnvoll, da sich die je unterschiedliche Entwicklungsgeschichte der Grandhotels in jeder dieser drei Städte exemplarisch nachzeichnen lässt.
„Die modernen Metropolenhotels spiegelten dabei nicht nur die Dynamiken, komplexen Funktionen und Schattenseiten des urbanen Lebens wider, sie verkörperten auch Utopien einer besseren Zukunft“, schreibt der Autor in seiner Einleitung. Die immensen sozialen und wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen der Jahrzehnte um 1900 bleiben natürlich nicht vor den Eingangstüren der großen Hotels stehen, sondern beeinflussen auch das gesellschaftliche Miteinander innerhalb der Hotelhallen.
Mit dem Aufstieg des Bürgertums, mit den technologischen und infrastrukturellen Entwicklungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde auch das Ende des feudalen Zeitalters eingeläutet. Der Adel öffnete sich dem Dialog, verließ seine hochherrschaftlichen Anwesen und begab sich verstärkt in die Öffentlichkeit, zeigte sich im öffentlichen Raum, und die Grandhotels boten für diese erste Öffnung den adäquaten und stilvollen räumlichen Rahmen.
Um 1900 trat mit dem ungebändigten Wachstum der Städte auch ein neuer Menschentypus auf den Plan: der Metropolen-Mensch, der Großstadtmensch, der urbane Mensch. Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel hat diesen neuen Typus des Großstädters immer wieder charakterisiert; in seinem wohl berühmtesten Text zu diesem Thema („Die Großstädte und das Geistesleben“, 1903) beschreibt er den Stadtmenschen als einen Menschen, der sich gegen die Reizüberflutung der Großstadt zu schützen sucht, indem er eine reservierte, betont nüchterne und „blasierte“ (heute würde man sagen: coole) Haltung einnimmt. Welcher Typus wäre anhand dieser Merkmale treffender beschrieben als der typische Hotelgast in einem luxuriösen Ambiente?
Der Autor möchte nicht nur ein realistisches Bild der kulturgeschichtlichen Entwicklung des Hotelwesens jener Zeit liefern, sondern es geht ihm um mehr. Er interessiert sich für den Zusammenhang und die Wechselwirkungen zwischen den Luxusräumen und dem gesellschaftlichen Wandel dieser Umbruchszeiten um 1900. Wie bereits angedeutet, wurde durch die Zweite Industrialisierung eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung angestoßen, die zu einem explosionsartigen Wachstum der großstädtischen Ballungsräume führte.
Bereits in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden in den USA, im Britischen Königreich und im deutschen Kaiserreich die ökonomischen und technologischen Grundlagen geschaffen, die eine auf Massenproduktion und Effizienzsteigerung ausgerichtete Wirtschaft ermöglichten, die ihrerseits zu einer verstärkten Landflucht in die wachsenden Städte und zur Heranbildung einer neuen proletarischen Gesellschaftsschicht führte, deren Lebensbedingungen prekär war.
Am anderen Ende des sozialen Spektrums sah sich der Adel mit einer zunehmenden Zahl von (Neu-)Reichen aus dem Bürgertum konfrontiert: Unternehmer, gesellschaftliche Aufsteiger und Menschen, die in der Gründerzeit ihr Glück machten und reich wurden. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg wuchs das gesellschaftliche Ansehen und das Selbstbewusstsein jener neuen wohlhabenden Schichten. Man wollte sich zeigen, seinen Reichtum präsentieren und natürlich auch auf Reisen sich in den entsprechenden Kreisen bewegen und zeigen, was man sich leisten kann.
Wir lernen schnell, dass es „den“ Großbürger genauso wenig gab wie „das“ Grandhotel. Wenn man heutzutage vom Grandhotel als Erinnerungsort der Moderne spricht, so sind damit mindestens zwei Leitbilder verbunden: das Palast-Hotel des Fin de Siècle (wie man es in den europäischen Urlaubsregionen der Schweiz und in Frankreich kannte) und das Grandhotel als Adaption der amerikanischen „Modern Hotels“ mit ihren perfekt durchrationalisierten Strukturen und ihrem bis in ungeahnte Dimensionen gesteigerten Luxus.
Der Autor identifiziert fünf Faktoren, die für die Entwicklung der Grandhotels in der Zeit zwischen 1880 und 1914 entscheidend waren. Erstens die wachsende Bedeutung der Metropolen für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Austausch; zweitens die Entstehung eines finanzstarken Bürgertums in den Metropolen; drittens die Einbeziehung der Grandhotels in die öffentliche Vergnügungs- und Konsumkultur; viertens die Funktion der Grandhotels als Trendsetter und Drehscheibe des transatlantischen Austausch im Bereich der technischen Neuerungen und fünftens der direkte Einfluss der Kapitalmächtigen im globalen Handel auf diese Entwicklungen in einem kolonialen Zeitalter.
Habbo Knoch ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Köln. Er hat bereits einige interessante Publikationen über die Zeit der Klassischen Moderne veröffentlicht. Wie nicht anders zu erwarten, sind seine Bücher sehr übersichtlich und logisch gegliedert, exzellent recherchiert und (trotz allen wissenschaftlichen Anspruchs) sehr gut zu lesen und leicht verständlich. Zahlreiche Abbildungen machen den Text noch anschaulicher und unterstützen den Leser in seiner Lektüre auch längerer Abschnitte.
Wer sich mit jener mondänen Welt der großen Luxushotels der Jahrhundertwende beschäftigen möchte, findet in diesem Buch eine Vielzahl von spannenden Fakten und erhält einen wissenschaftlich fundierten Einblick in die Gesellschaftsräume einer verlorenen Zeit und einer untergegangenen Welt.
Aber ist der Luxus jener Zeit wirklich verloren? Schwingt nicht auch in den heutigen Fünf-Sterne-Häusern noch jener Geist der vergangenen Zeiten mit? — Ja und nein. Natürlich gibt es auch heute noch exklusive Orte der Gastlichkeit, jene Inseln der Glückseligen, die nur den Reichen und Superreichen vorbehalten sind, die sich gerne mit Luxus umgeben und sich von der Öffentlichkeit abschotten möchten. Und doch sind es heute natürlich andere Zeiten, ist die Gesellschaft eine andere, und die Art und Weise, wie man sich in der Öffentlichkeit bewegt, hat sich selbstverständlich auch gewandelt.
Deshalb ist es umso wichtiger und umso faszinierender, mit dem Autor auf eine Zeitreise in die Vergangenheit zu gehen und sich an der kundigen Hand eines Historikers durch jene Welt des Luxus zu bewegen, die vor über hundert Jahren in den Grandhotels der Metropolen die Reichen der Gesellschaft umgab.
Autor: Habbo Knoch
Titel: „Grandhotels — Luxusräume und Gesellschaftswandel in New York, London und Berlin um 1900“
Gebundene Ausgabe: 495 Seiten
Verlag: Wallstein
ISBN-10: 3835319116
ISBN-13: 978-3835319110