Ist Hannah Arendts Essay von 1943 in der Lage, einen Beitrag zur Diskussion um die Situation der Flüchtlinge in Deutschland zu liefern? – Diese Frage mag man sich spontan stellen, wenn man das schmale Bändchen aus der „Was bedeutet das alles?“- Reihe des Reclam-Verlages in der Buchhandlung entdeckt. Jüngst als Monografie aufgelegt, soll Arendts Text wohl vor allem durch seinen aktuell wirkenden Titel die Aufmerksamkeit des Lesepublikums wecken. Doch vielleicht steckt noch mehr dahinter?
Der Beitrag erschien erstmals im Januar 1943 unter dem Titel We Refugees im Menorah Journal. Hannah Arendt lebte seit 1937 in den USA und schrieb seitdem auf Englisch. Ihr bekannter Essay ist für unsere heutige Zeit auf den ersten Blick nicht mehr relevant.
Denn sie schreibt aus einer weltpolitischen Situation heraus, in der Hitler die halbe Welt in den Krieg getrieben, viele Länder besetzt und vor allem die Ausrottung der Juden mit einem Tempo und einer Perfektion vorangetrieben hat, die die Lage der Juden, aber auch vieler anderer Nationen an den Abgrund getrieben hatte.
Wie Arendt in ihrem Text aufzeigt, fand im Zuge des nationalsozialistischen Terrors ein Paradigmenwechsel in Bezug auf den Begriff des Flüchtlings statt: Wurden Flüchtlinge zuvor vor allem aus politischen, religiösen oder wirtschaftlichen Gründen gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen, so traf es die deutschen Juden in dieser speziellen historischen Situation aus einem völlig neuen Grunde: aufgrund ihrer völkischen Nicht-Zugehörigkeit. Der Rassismus als einziges Kriterium der Ausgrenzung und späteren Vernichtung schuf in den 1930er Jahren einen neuen Typus des Flüchtlings.
Die jüdische Bevölkerung war sowohl in Deutschland als auch in jenen Ländern, die nach und nach durch Hitlers Armeen besetzt wurden, bestens integriert. Man hätte sich allerorten in sehr starkem Maße assimiliert, wurde als zum deutschesten Deutschen, französischsten Franzosen usw. Aus dieser Überanpassung heraus war nicht nur der soziale Abstieg durch die Emigration ein Sturz ins Bodenlosen, sondern löste sogleich einen Reflex der Neu-Assimilierung aus, sobald man einen neuen Zufluchtsort gefunden hatte. In manchen Fällen mussten sich die emigrierenden Juden gleich mehrmals hintereinander assimilieren, wurden zunächst die besten Franzosen, die britischsten Engländer, dann die Vorzeigebürger Amerikas.
Diesen Reflex der emigrierenden Juden beschreibt Arendt in ihrem Essay. 1943 war noch nicht abzusehen, ob und wann Hitler-Deutschland besiegt werden könnte, die Fluchtbewegungen waren überall in Europa in vollem Gange. Folgerichtig und prophetisch spricht Arendt auch von den jüdischen Flüchtlingen als der „Avantgarde der Flüchtlinge“. Hier ganz wörtlich zu verstehen als jene, die den anderen Flüchtlingen vorausgehen; denn zuerst werden die Juden verfolgt und der Vernichtungsmaschinerie der Nazis unterworfen, danach werden dann andere Volksgruppen folgen.
Der staatenlose Flüchtling ist ohne Recht. Er hat kein „Recht, Rechte zu haben“, wie Hannah Arendt an andere Stelle schreibt. Wer auf der Flucht ist und in einem anderen Land oder gar auf einem anderen Kontinent Unterschlupf findet, hat alles verloren: seine Freunde, seine Familie, seine Kultur, seine Sprache. Mit anderen Worten bedeutet das den „Zusammenbruch der privaten Welt“.
An dieser Stelle wird Hannah Arendts Text wieder brandaktuell. Wer aus Syrien, Afghanistan oder aus dem Maghreb in diesen Jahren nach Deutschland flüchtet, hat, wenn nicht alle diese Finge, so doch das Meiste davon verloren. Die Kriegstraumata wirken auch im neuen Zuhause weiter, nur die Wenigsten werden schon von Heimat sprechen können, wenn sie an Deutschland denken. Allen gemeinsam ist der „Zusammenbruch der privaten Welt“, und das oft schon daheim in Syrien, Afghanistan oder im Maghreb. Bürgerkrieg und fundamentalistischer Terror haben ihre Heimat zu einem anderen, fremden Ort gemacht, haben die Familien zerrissen, die Kultur geschändet und die Freund- und Nachbarschaften vernichtet.
Diese Terrorerfahrungen sind nicht mit jenen der Juden in den 1930er Jahren zu vergleichen, von denen Arendt weiß und an die sie denkt, wenn sie die Lage der jüdischen Flüchtlinge, die sich selbst lieber als „Neuankömmlinge“ oder gar als „Einwanderer“ bezeichnen. An dieser Stelle wäre es mal interessant zu hören, wie sich die Mehrzahl der aktuellen Flüchtlinge in Deutschland bezeichnet: Sind sie Flüchtlinge oder Neuankömmlinge? Nur vorübergehende Expatriates oder echte Einwanderer? Viel, sehr vieles hängt von diesem Selbstbild ab.
Hannah Arendt beschreibt die Grundstimmung der jüdischen Neuankömmlinge als optimistisch, doch es ist eine verzweifelte Spielart des Optimismus, mehr ein Zweckoptimismus, dessen Kehrseite nicht selten der Freitod ist. Es gibt kein Zurück, die Verfolgung ist unwiderruflich an die eigene Rasse geknüpft, und so setzt man all seine Hoffnungen in eine bessere, in die einzig mögliche Zukunft.
Diese Radikalität der Bedrohung des eigenen Lebens durch den feindlichen Staat ist heute in den Herkunftsländern der Flüchtlinge eher die Ausnahme, von ethnischen Säuberungen abgesehen. Was die Menschen in diesen Ländern bedroht, ist der Terror von Milizen, das Chaos und die katastrophalen hygienischen und infrastrukturellen Zustände in den Bürgerkriegsregionen sowie die zahlreichen Gefahren auf der Flucht selbst.
Im Anhang dieses kleinen Büchleins findet sich ein sehr informativer Radio-Essay, den Thomas Mayer im Dezember 2015 zum Thema „Hannah Arendt und die Flüchtlinge“ verfasst hat. „Wir Flüchtlinge“ ist einer der bekanntesten Texte Hannah Arendts; der kurze Essay liest sich leicht und mag dem einen oder anderen Leser einen ersten Zugang zu ihrem bedeutenden philosophischen und soziologischen Werk machen, das immer auch ein politisches war.
Autor: Hannah Arendt
Titel: „Wir Flüchtlinge“
Gebundene Ausgabe: 64 Seiten
Verlag: Reclam, Philipp, jun. GmbH
ISBN-10: 3150193982
ISBN-13: 978-3150193983