Der Sandmann, erschienen 1816, gehört wohl zu bekanntesten Erzählungen von E. T. A. Hoffmann. Dieses Kunstmärchen der Schwarzen Romantik erzählt die Lebensgeschichte des sensible Nathanael aus verschiedenen Perspektiven. Der Sandmann verkörpert für Nathanael seine Angst vor höheren Mächten. Seine Verlobte Clara und deren Bruder Lothar, denen er in Briefen davon erzählt, halten das jedoch für bloße Einbildung.
Wer sich für Literaturwissenschaft interessiert und eine Antwort auf die Frage sucht, was man wissenschaftlich mit einem Text alles anstellen kann, ist mit dem vorliegenden Buch bestens ausgerüstet. Herausgegeben von dem bekannten Literaturwissenschaftler Oliver Jahraus, wird in 17 Variationen gezeigt, wie die verschiedenen Literaturtheorien aus ihren jeweiligen Perspektiven einen literarischen Text analysieren.
Historisch betrachtet, existierte die Germanistik, oder modern: die Literaturwissenschaft, niemals in einem hermetisch abgeschlossenen Wissenschaftsraum, sondern hat sich im Laufe ihrer historischen Entwicklung immer an den jeweils aktuellen wissenschaftlichen Diskurs orientiert und dessen Impulse in die eigene Entwicklung einfließen lassen. Auf diese Weise ist die Literaturwissenschaft heute mehr oder weniger zu einer Teildisziplin der Kulturwissenschaften geworden, die sie umfassen und in deren Spannungsverhältnis sie so lebendig ist wie nie zuvor.
Das vorliegende Buch stellt anhand von Modellanalysen die unterschiedlichen Ansätze der wichtigsten modernen Literaturtheorien vor und zeigt, wie sie auf einen historischen fiktionalen Text wie den Sandmann von E. T. A. Hoffmann praktisch angewendet werden. Einige Literaturtheorien, wie die Hermeneutik oder der Strukturalismus, sind heute zwar veraltet; dennoch dürfen sie in einer solchen praktischen Einführung nicht fehlen, zumal sie selbst heute noch in der Lage sind, einige fruchtbare Impulse für die eigene Textanalyse zu liefern.
Um die 17 Literaturtheorien kurz beim Namen zu nennen, es sind: Hermeneutik, Strukturalismus, Dekonstruktion, Narratologie, Rezeptionsästhetik, Diskursanalyse, New Historicism, Intertextualität, Literatursoziologie, Psychoanalyse, Literarische Anthropologie, Biopoetik, Gender Studies, Visual Studies, Raumtheorie, Post-Colonial Studies und die Akteur-Netzwerk-Theorie.
Diese Aufzählung deutet schon die Interdisziplinarität der modernen Literaturwissenschaft an; wie bereits gesagt, ist die eng mit den Kulturwissenschaften verbunden, aber auch philosophische Disziplinen (wie die Raumtheorie), psychologische Analysetechniken (wie die Psychoanalyse und die Traumdeutung) sowie soziologische Methoden (Literatursoziologie) kommen bei ihr zum Einsatz.
Die Autoren dieses Sammelbandes sind durch die Bank im akademischen und wissenschaftlichen Umfeld tätig und lassen, was die fachliche Kompetenz ihrer Beiträge betrifft, keine Wünsche offen. Die Analysen sind leicht verständlich geschrieben und richten sich in erster Linie an Studierende der Literaturwissenschaft, sind aber auch für den interessierten Leser sehr aufschlussreich. Denn hier kann auch der Laie einmal den Literaturtheoretikern bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen und sich von der Vielfalt der möglichen Text-Zugänge faszinieren — und vielleicht auch ein bisschen inspirieren lassen.
Autor: Oliver Jahraus (Hg.)
Titel: „Zugänge zur Literaturtheorie — 17 Modellanalysen zu E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann“
Taschenbuch: 320 Seiten
Verlag: Reclam, Philipp, jun. GmbH, Verlag
ISBN-10: 3150110823
ISBN-13: 978-3150110829