Sarah Bakewell: „Wie soll ich leben? Oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten“

Sarah Bakewell: „Wie soll ich leben? Oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten“Die Website „The Oxford Muse“ ragt aus dem schier unüberschaubaren Wirrwarr von Blogs und anderen Selbstdarstellungsformaten im Netz heraus. Auf dieser Plattform werden Menschen dazu angehalten, in ihren Beiträgen zu beschreiben, was sie einzigartig macht, was sie besonders gut können und was sie von allen anderen Menschen auf der Welt unterscheidet. Indem sie ihre Beiträge schreiben, betonen die Verfasser einerseits ihre Individualität, andererseits zeigen sie auf diese Art auch, was sie mit allen anderen Menschen auf diesem Planeten verbindet: ihr Menschsein.

Dieses faszinierende Internet-Projekt hat ein historisches Vorbild: Es sind die Essais eines Mannes aus dem Périgord, im Südwesten Frankreichs. Michel Eyquem de Montaigne war Adliger und Staatsbeamter, Besitzer eines Weinguts und Schöpfer einer literarischen Form, die es in dieser Art und in diesem Umfang vor ihm nicht gab. Was wir heute als Essays bezeichnen, geht auf diesen Franzosen zurück, der im 16. Jahrhundert lebte.

Montaigne schrieb seine Memoiren nicht, wie andere Adlige seiner Zeit. Er kompilierte nicht seine Begegnungen mit wichtigen Persönlichkeiten und seine Erinnerungen an die wichtigsten historischen Ereignisse, die seinen Lebensweg kreuzten. Vielmehr unterzog er sich einer kontingenten und ungeordneten Auswahl von persönlichen Fragen, mit denen er sich introspektiv beschäftigte und diese Gedanken aufschrieb. In Ermangelung eines besseren Titels nannte er diese Textsammlung einfach „Essais“. Der Rest ist Geschichte.

Sarah Bakewell ist eine britische Schriftstellerin, sie lebt in Clapham, im Süden Londons. Ihr Buch über Montaigne wurde in den USA mit dem „National Book Critics Circle Award for Biography“ und in Großbritannien mit dem „Duff Cooper Prize for Non-Fiction“ ausgezeichnet. Man kann über den Sinn und Zweck von Literaturpreisen streiten, aber dieses Buch hat solche Unterstützung gar nicht nötig: Es leuchtet wie ein Edelstein in einem Buchregal voller stumpf-grauer Kohle.

Die Autorin versucht sich dem Essayisten Montaigne in zwanzig Antworten zu nähern, die alle die eine entscheidende Frage Montaignes beantworten sollen: Wie soll ich leben? — Diese Haupt- und Lebensfrage Montaignes versucht sie aus verschiedenen Perspektiven zu ergründen, indem sie sich mit den biographischen Aspekten seines Lebens auseinandersetzt und diese in ihren Text einfließen. Was auf diese Weise entsteht, ist ein wundervoll tanzender Text, eine beschwingte Reise durch das Leben eines Intellektuellen der Renaissance, dessen Gedanken und Erkenntnisse auch heute noch genauso viel Gültigkeit haben wie zu seiner Zeit.

Das Faszinierende an Montaignes Essais ist ihre Zeitlosigkeit. Wir lesen seine Texte und denken mit dem Kopf eines französischen Adligen aus dem 16. Jahrhundert, dessen Luzidität uns immer wieder verblüfft. In zahlreichen Auszügen wird aus den Essais zitiert, und diese Textpassagen machen Lust auf das Original. Dieses finden wir zum Beispiel in der schönen Übersetzung von Hans Stilett (1998), die in der Taschenbuchausgabe komplett bei DTV erschienen ist.

Lesen Sie Sarah Bakewells Buch über Montaignes Leben und lassen Sie sich verführen, sich mit dem Leben und Denken dieses klaren Geistes intensiv zu beschäftigen. Doch es kommt noch besser: Während der Lektüre vollzieht sich im Leser eine zarte Wandlung, die dazu führt, dass er, sich an Montaigne ein gutes Beispiel nehmend, mehr und mehr sich mit dem eigenen Leben beschäftigt und dieses zu hinterfragen beginnt. Bakewells Buch wird Ihnen also nicht nur Michel de Montaigne näherbringen, sondern Ihnen auch eine Menge über Ihr eigenes Leben sagen. Denn Montaignes Philosophie ist immer nahe am Leben und stellt nicht nur sich selbst, sondern auch dem Leser, eben jene entscheidende Frage: Wie soll ich leben?

Seien wir ehrlich: Diese Frage hat niemand von uns letztgültig und zufriedenstellend für sich beantwortet. Umso mehr sollten wir uns mit dieser Kernfrage — und somit letztlich: mit uns selbst — beschäftigen und unsere Art zu leben immer wieder neu hinterfragen. Es ist nie zu spät, um damit anzufangen, und es ist nie zu früh, sich diese Frage nach dem eigenen Leben zu stellen.

 

Autor: Sarah Bakewell
Titel: „Wie soll ich leben? Oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten“
Taschenbuch: 416 Seiten
Verlag: C.H.Beck
ISBN-10: 3406697801
ISBN-13: 978-3406697807