Der Berliner Philosoph und Soziologe Georg Simmel hatte 1903 in seinem Vortrag über „Die Großstädte und das Geistesleben“ den Großstädter (und damit natürlich in erster Linie den Berliner!) als einen Menschen charakterisiert, der sich gegen die auf ihn einstürzenden Eindrücke des Großstadtlebens mit einer gewissen Blasiertheit, Intellektualität und Reserviertheit zu behaupten versucht. Was den Großstädter in Augen der ländlichen Bevölkerung so arrogant aussehen lässt, sei, so Simmel, letztlich nichts als das Resultat seiner Maßnahmen gegen die Hektik des Großstadtlebens.
Während Berlin seit den 1870er Jahren einen in Europa unvergleichbaren Aufschwung nahm — zwischen 1870 und 1890 verdoppelte sich die Einwohnerzahl, und allein zwischen 1900 und 1910 stieg die Bevölkerungszahl um 1 Million von 2,7 auf 3,7 Mio. Einwohner —, begann sich in diesem großstädtischen Moloch eine Freizeitkultur zu entwickeln, die, vor allem in den 1920er Jahren, den Vergleich mit Paris, London oder New York nicht scheuen brauchte.
Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches schaffte die junge und gebrechliche Demokratie der Weimarer Republik die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine Freisetzung kreativer und künstlerischer Kräfte auf allen Ebenen der Kultur. Die Arbeitsbedingungen verbesserten sich grundlegend, plötzlich gab es so etwas wie „Freizeit“, die der Erholung von Körper und Geist dienen sollte und mit „Sinn“ gefüllt werden wollte. Das junge Heer der Angestellten wollte sich nach Feierabend amüsieren. Der Siegeszug des neuen Mediums Film und die Ära der großen Lichtspieltheater wäre ohne eine entsprechend ausgebildete Angestellten-Kultur undenkbar.
Einen sehr schönen Überblick über die Kultur der Weimarer Zeit bietet das im be.bra-Verlag erschiene Buch von Peter Hoeres („Die Kultur von Weimar – Durchbruch der Moderne“). Eine Einführung über die Geburt der Moderne in der deutschen Kaiserzeit das Buch von Frank-Lothar Kroll („Geburt der Moderne – Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg“). Beide Bücher wurden hier bereits besprochen.
Der vorliegende Band „Weltstadtvergnügen“ steigt dagegen deutlich tiefer in die Materie ein und befasst sich intensiv mit den wichtigsten Phänomenen der neuen Massenkultur. So untersuchen die Autoren dieses Sammelbandes die Unterhaltungstheater, das Tanzvergnügen und die Populärmusik jener Zeit, die Vergnügungsparks sowie den vor allem in den 1920er Jahren so omnipräsenten Kokainkonsum im Berliner Nachtleben.
Was dieses Buch besonders interessant macht, ist sein enger Fokus auf die Berliner Freizeitkultur sowie der Informationsreichtum der einzelnen Beiträge. Das Buch erfüllt alle Ansprüche einer wissenschaftlichen Lektüre: Es sammelt Fußnoten, verfügt über einen Anhang, einen Quellen- und Bildnachweis, ein Literaturverzeichnis und ein Register. Aber auch der interessierte Leser ohne wissenschaftlichen Anspruch wird an diesem „Weltstadtvergnügen“ seine Freude haben.
Zahlreiche Abbildungen und leicht lesbare sowie verständliche Texte lassen vor dem Auge des Lesers das bunte Bild einer lebendigen und facettenreichen Freizeitkultur entstehen, die seinerzeit in Europa einzigartig war. „Weltstadtvergnügen“ ist ein lehrreicher Rückblick auf ein weltstädtisches Berlin, das vor knapp 100 Jahren die modernste Stadt Europas und mit ihren rund vier Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt der Welt war.
Autor: Daniel Morat u. a.
Titel: „Weltstadtvergnügen — Berlin 1890-1930“
Gebundene Ausgabe: 272 Seiten
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
ISBN-10: 3525300875
ISBN-13: 978-3525300879