Karl Scheffler: „Berlin — ein Stadtschicksal“

Karl Scheffler: „Berlin — ein Stadtschicksal“Immer wieder wird jener berühmte Schlusssatz aus Karl Schefflers bitterer Berlin-Kritik zitiert: Berlin sei dazu verdammt, „immer zu werden und niemals zu sein“. Das klingt markig, passt in jede Zeit — und scheinbar ganz besonders in unsere heutige. Wir brauchen gar nicht an den ewig im Bau befindlichen Großflughafen BER denken, um dies Einschätzung Schefflers zu verifizieren. Großprojekte waren noch nie eine Berliner Spezialität. Aber auch so wird Berlin eigentlich niemals fertig; auch das ist nicht erst seit der Wende so, sondern wir lesen schon in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ von jenem Stakkato artigen „rummer di bummer“ der Dampframmen am Alexanderplatz, als in den späten 1920er Jahren die U-Bahn gebaut wurde.

Das alles liegt nicht etwa daran, dass in Berlin eben permanent gebaut wird: Wenn man am einen Ende endlich fertig ist, wird am anderen Ende schon wieder der Asphalt aufgerissen. Doch das Problem liegt in dieser irren Bautätigkeit; das eigentliche Problem liegt tiefer im Wesen der Stadt verborgen: in der DNA der Stadt!

Florian Illies hat ein wundervolles Vorwort zu diesem Klassiker der Kulturkritik geschrieben, und er spricht ganz offen aus, wofür Scheffler selbst noch die Worte fehlen musste, da die DNA noch nicht entdeckt war. Doch die Diagnose ist klar: Berlin hat ein grundlegendes Problem mit dem Stillstand. Es ist wie ein junger Derwisch, der einfach nicht stillsitzen kann — auch nicht für zwei Minuten. Jedoch anders als ein kleiner Junge ist diese Stadt gar nicht mehr so jung. Immerhin knapp 780 Jahre hat sie 2017 offiziell auf dem Buckel, was gemessen an Athen, Rom, London oder Paris natürlich immer noch ein jugendliches Alter ist. Aber immerhin-que, wie der Lateiner sagt!

Doch dieses Alter täuscht etwas vor, was an dieser Stelle nicht verschwiegen werden darf: Berlin hat sich sehr lange Zeit gelassen, erwachsen zu werden. Wer weiß, vielleicht befindet sich die Stadt auch gerade heute erst in ihren frühen Twen-Jahren? Der Teenage Rampage hatte die halbe Welt in den Abgrund gerissen und war letztlich keine gute Idee. Alle werden das bestätigen. — Nein, Berlin ist noch sehr jung, zumindest als Großstadt und gar erst als Metropole!

Los ging das Ganze mit der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Plötzlich zogen die Leute vom Land in die Stadt, in der Hoffnung auf Arbeit, und ein bisschen Wohlstand. Zwischen 1890 und 1910 ging es dann wichtig los: Die Bevölkerungszahl explodierte, und Berlin platzte aus allen Nähten. Zwischen 1870 und 1890 verdoppelte sich die Einwohnerzahl, und allein zwischen 1900 und 1910 stieg die Bevölkerungszahl um 1 Million von 2,7 auf 3,7 Mio. Einwohner. Die Stadt war noch eng im Radius, eng bebaut, und die ständig steigende Zahl an Arbeitern und Arbeitssuchenden, die in die Stadt strömten, machten die Lage nicht besser. Die Lösung waren Mietskasernen mit sechs, sieben, acht Hinterhöfen, in die kaum je das Tageslicht fiel. Massenhafte Tuberkulose und unvorstellbare hygienische Verhältnisse waren die Folge.

Genau an diesem Punkt befinden wir uns also im Jahre 1910, als der Kulturkritiker Karl Scheffler sein analytisches und schonungsloses Portrait der Stadt schrieb, das dann unter dem schmissigen Titel „Berlin — ein Stadtschicksal“ publiziert wurde. Scheffler hat diese Stadt geliebt und gehasst zugleich. Es ist deutlich zwischen den Zeilen zu lesen, dieses Ringen mit der Stadt und ihren Bewohnern. Berlin will ja, Berlin könnte doch auch — aber Berlin wird nicht, wird niemals so bedeutend sein, wie es gerne möchte. Es wird niemals zu einer echten Metropole anwachsen, die wirklich internationalen Rang hat, auch wenn es gerade jetzt wieder einmal so scheint, als könnte es was werden mit Berlins Metropolen-Träumen.

In der Vergangenheit gab es eigentlich nur eine einzige kurze Zeitspanne, in der Berlin wirklich auf dem Weg zu einer Metropole war. Das waren die späten 1920er Jahre, nachdem sich die Weimarer Demokratie einigermaßen stabilisiert hatte; aber schon ein paar Jahre später war alles wieder vorbei, und die nationalsozialistische Großmannssucht hat diesen Metropolen-Traum in seiner germanischen Überblendung mit Pauken und Trompeten — mit Bomben und Raketen — wieder untergehen lassen: aus, vorbei, Schluss.

Doch diese kurze Zeitspanne am Ende der Zwanziger Jahre hat Scheffler noch nicht vorhersehen können, als er 1909/10 an seinem Buch schrieb! Er hatte das Wilhelminische Berlin vor Augen, jene aus allen Nähten platzende, stinkende und rauchende und mit dickem Pomp, viel Stuck und falschen Säulen im Neo-Stil wie wild um sich bauende Boomtown des frühen 20. Jahrhunderts, die damals wirklich drauf und dran war, eine der größten Städte der Welt zu werden. Doch seien wir ehrlich: Was bedeutet schon Größe? Mexico City, Chongqing, Delhi und Manila gehören zu den größten Städten der Welt, doch will man dort leben? — Genau.

In „Berlin — ein Stadtschicksal“ macht sich Scheffler die Mühe, die Geschichte Berlins wirklich bis zu ihren Anfängen zurück zu verfolgen. Er war ein ordentlicher Mensch, und er legte viel Wert auf Sorgfalt. Dennoch braucht der Leser keine langwierigen Erörterungen der Lebensweise jener „germanischen Ackerbauern und wendischen Fischer“ befürchten; Scheffler stellt nur nüchtern fest, dass Berlin im Grunde schon seit seiner Gründung eine Kolonialstadt gewesen ist. Wo jetzt Berlin, die „Hauptstadt Ostelbiens“, liegt, war vorher nichts: nur Sumpf und Wiesen und die Spree.

Interessant ist aber vor allem das einleitende Kapitel dieses Stadtportraits, in dem Scheffler die besondere Perspektive seiner Stadtanalyse erläutert. Er betrachtet die Stadt als ein handelndes Subjekt: „Jede Stadt ist ein Individuum.“ Scheffler konstatiert, dass Städte, genau wie Menschen, sich nach bestimmten Typen ordnen lassen: so gibt es große, kleine, laute, leise, ausufernde und schrumpfende, international wirkende und provinzielle Städte/Menschen usw. Der jahrhundertelange Strom seiner Bewohner, der niemals abreißt und immer wieder (mehr oder weniger) von derselben Art ist, prägt auf die Dauer das Bild der Stadt sowie das Bild der Stadt von sich selbst. Gleichzeitig wirkt die Stadt auch auf ihre Bewohner einen bestimmten formenden Druck aus: Wer hier wohnen will, muss sich anpassen.

Das ist gar nicht weit entfernt von Georg Simmel, der etwa zur selben Zeit seine „Große Soziologie“ verfasst hat, in der er unter Anderem die Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft im Prozess der Vergesellschaftung beschreibt. Faszinierend an Schefflers Perspektive auf die Stadt als Individuum ist jedoch, dass er wohl als einer der Ersten einen solchen Standpunkt eingenommen hat, der später in der Stadtsoziologie wie in der Metropolenforschung zu einer gängigen Denkweise wurde. Allerdings erwies sich diese Idee einer Individualisierung und Personalisierung der Stadt für die wissenschaftliche Arbeit als unbrauchbar; die Stadt ist eben gerade kein emergentes Phänomen, sondern einfach jener urbane Raum, in dem gesellschaftliche Prozesse ablaufen bzw. in dem jener Raum durch das soziale handeln konstituiert wird.
Doch die Ansicht, dass die Stadt ein Gegenüber sei, das sich dem Individuum entgegenstellt oder ihn freundlich aufnimmt, wurde vor allem von der Literatur und den Künsten dankbar aufgenommen. In der Zeit von „Berlin — ein Stadtschicksal“ war der Expressionismus die angesagte Strömung in Literatur und Kunst. Im gleichen Jahr wird die Zeitschrift „Der Sturm“ von Herwarth Walden gegründet; Georg Heym wird im nächsten Jahr seine expressionistische Gedichtsammlung „Der ewige Tag“ veröffentlichen, und Jakob van Hoddis schreibt sein berühmtes Gedicht „Weltende“.

Die Stadt als Emergenz, als etwas, das über die Summe seiner Teile hinausgeht, und die Stadt als gewalttätiger Protagonist, der sich die Menschen, die in ihr leben, untertan macht: Das lesen und sehen wir auch wenige Jahre später in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ oder in Fritz Langs „Metropolis“. Die Stadt als Moloch, als Menschen fressende Riesenmaschine — eine solche Dystopie ist in Schefflers Buch noch nicht angelegt. Scheffler beschäftigt sich vielmehr mit der Großstadtgesellschaft und ihren Eigenarten. Die Betrachtungsweise der Stadt als Individuum ist für ihn nur ein Mittel zum Zweck der Offenlegung des Berliner Wesenskerns.

Schefflers Buch liest sich sehr flüssig, und seine Sprache klingt überhaupt nicht so, wie man es von einem über 100 Jahre alten kulturkritischen Buch aus der Kaiserzeit erwarten würde. Das ist nicht nur erstaunlich, sondern auch schön! Denn auf diese Weise kommt man mit der Lektüre schnell voran und bleibt, bildlich gesprochen, am Ball.

Scheffler hält dem Berliner (jedes Jahrhunderts!) den Spiegel vor Augen, schaltet noch einen zusätzlichen Scheinwerfer an, damit man auch ja nichts übersehen kann. Aber seine Diagnose ist nicht nur niederschmetternd, sondern hat letztlich auch etwas Versöhnliches: Der Berliner kann gar nicht anders sein, als wir ihn kennen! Großmaul mit Herz auf dem rechten Fleck — oder anders gesagt: liebevoll, aber gut im Meckern. Er kann gar nicht anders! Es liegt an seiner DNA. Es sind seine Kolonialstadt-Gene, die da einfach immer wieder verrücktspielen. Der Berliner denkt ausschließlich in Groß-Projekten und in Ganz-groß-Projekten, und am Ende hat er einen ganzen Strauß solcher angefangenen Unternehmungen, die einfach nicht fertigwerden wollen. Aber das ist doch nicht seine Schuld!

Schefflers „Berlin — ein Stadtschicksal“ ist ein wunderbares Buch, das jeder (auch Nicht-Berliner) unbedingt lesen sollte! Jetzt wo es endlich wieder — dank sei dem Suhrkamp Verlag! — neu aufgelegt wurde. Scheffler lesen, heißt Berlin verstehen!

So schön das alles ist, am Ende steht jedoch leider ein ganz wesentlicher Kritikpunkt. Es muss an dieser Stelle auf einen Sachverhalt hingewiesen werden, der die Lektüre dieses schlauen Buches nicht unbeträchtlich beeinträchtigt: Ganz entgegen der für den Suhrkamp-Verlag allgemein so typischen, hervorragenden Verarbeitung seiner Bücher ist die physische Realität dieses Titels eine herbe Enttäuschung.

Jene Hardcover-Ausgabe von Schefflers Text ist derart schlecht produziert, dass sie keinesfalls als eine Empfehlung für den Verlag gelten kann, sondern eher als eine Art Abschreckungsversuch eingeordnet werden muss: In ein sattes Signalrot getaucht, mag das Buch die archaischen Triebe so manches Lesers ansprechen und ihn instinktiv zu diesem Buch greifen lassen. Aber gleich im nächsten Moment, wenn er dieses in seinen Händen hält, wird es jedem, der die Publikationen des Suhrkamp-Verlag und ihre ansonsten so anschmeichelnd und hochwertig produzierten Bücher zu schätzen weiß, schwer in der Hand und ums Herz, und er wird es mit einem Stirnrunzeln wieder zurück an seinen Platz legen. — Was hat man sich nur dabei gedacht?

Handelt es sich vielleicht um den Versuch einer Reprint-Ausgabe? In welchem Zusammenhang steht der rote Buchschnitt mit dem kunstkritischen Portrait der deutschen Hauptstadt? Wieso hat man ein sich schnell verbiegendes Hardcover und derart sprödes, trockenes und dickes Papier für die Druckseiten verwendet? Warum ist die Druckqualität so untypisch schlecht, dass die Druckfarbe die Seitenzahlen oft zusoßen lässt? Mit einem Wort: warum??? Wieviel angenehmer wäre die Lektüre in einem Taschenbuch der Qualität der edition suhrkamp oder der Suhrkamp Wissenschaft! Und wie viele Leser mehr könnte der Verlag gewinnen, wenn er anstelle jenes blöden auf dem Kopf stehenden Berliner Bären irgendein(!) lizenzfreies Foto aus dem Berliner Stadtleben der Kaiserzeit gewählt hätte!

Mit diesem knallroten Outfit landet Schefflers hervorragende Vivisektion der deutschen Möchtegern-Metropole jedoch schnell auf jenem Grabbeltisch, auf dem die Geschenkbücher für das Osterfest und die letzten fünf Jamie-Oliver-Kochbücher präsentiert werden… Das passt zwar farblich, hat aber ansonsten nichts miteinander gemein. — Schade! Es scheint, dass hier wirklich vom Marketing mal so richtig gründlich in die falsche Zauberkiste gegriffen worden ist.

Dies sollte jedoch niemanden davon abhalten, diesen Scheffler trotzdem zu kaufen und zu lesen! Denn was er vor hundert Jahren schrieb, gilt noch heute für Berlin und die Berliner. Für die sei das Buch ein Stück Selbsthilfe-Literatur, für alle Anderen ein Schlüssel zum Verständnis dieser schon immer aufgeblasenen Großstadt mit Weltniveau-Ambitionen.

 

Autor: Karl Scheffler
Titel: „Berlin — ein Stadtschicksal“
Gebundene Ausgabe: 222 Seiten
Verlag: Suhrkamp Verlag
ISBN-10: 3518425110
ISBN-13: 978-3518425114