Welcher Name fällt Ihnen bei dem Begriff Universalgenie ein? — Richtig, natürlich Leonardo da Vinci! Okay, als richtige Antwort könnte auch Galileo Galilei gelten, doch hier geht es um den Erstgenannten.
Leonardo war nicht nur Maler, Architekt, Bildhauer, Anatom, Ingenieur und Philosoph. Mit anderen Worten: Er war, was wir heute unter einem Universalgelehrten verstehen — eine Spezies, die längst ausgestorben ist. Leonardo lebte im 15. Jahrhundert und gilt als einer der wichtigsten Künstler und Gelehrten der italienischen Renaissance.
Jeder kennt die wichtigsten Kunstwerke Leonardos: das Abendmahl, die Mona Lisa, die Dame mit dem Hermelin. Jeder weiß, dass Leonardo da Vinci Leichen seziert hat, obwohl dies strengstens verboten war. Leonardo war ein hervorragender Ingenieur und Erfinder, der sein Talent nicht zuletzt auf dem Gebiet der Waffentechnik einsetzte. — Doch Leonardo als Schriftsteller?!?
Im Schweizer Unionsverlag ist kürzlich ein schmales Bändchen mit Miniaturen aus der Feder von Leonardo da Vinci erschienen. Wenn man sich die Titel anschaut — „Der Esel auf dem Eis“, „Die Auster und die Maus“, „Der Stieglitz“, „“Die Waldrebe“, „Der Pfirsichbaum“ — so bekommt man den Eindruck, dass hier ein kleines italienisches Bestiarium mitsamt der es umgebenden Flora und Fauna zur Darstellung kommt.
In der Tat sind diese Miniaturen Leonardos hübsche kurze Fabeln, deren Hauptaufgabe in der Entwicklung von Gleichnissen liegt. Am Beispiel der Tier- und Pflanzen-Verhältnisse soll menschliches Handeln beschrieben und zu einem Besseren geführt werden. Es geht also um deskriptive und normative bzw. appellative Texte aus der Zeit der frühen Renaissance.
Wenn von Fabeln gesprochen wird, antworten viele Leser geradezu reflexartig mit einem Gedanken an Jean de la Fontaine, dessen Tierfabeln auch heute noch zu den schönsten Beispielen jener Gattung zählen. Dennoch darf man hier nicht die zeitliche Abfolge durcheinanderbringen: La Fontaine wurde erst über hundert Jahre nach Leonardos Tod geboren. Außerdem ist die literarische Gattung der Fabel viel, viel älter. Sie ist mindestens so alt wie die Literatur selbst; ihre Geschichte lässt sich bis zu Äsop im antiken Griechenland zurückverfolgen — bis etwa 600 v. Chr.
Besonders schön an dieser Ausgabe ist die Kombination mit zahlreichen Rötel- und Federzeichnungen Leonardos von Pflanzen und Tieren. Jeder kennt seine detailreichen und genialen Skizzen; doch gerade in Verbindung mit seinen eigenen allegorischen Texten bekommen diese Naturansichten noch einmal eine ganz neue Bedeutung.
Es ist ein schmales Bändchen von gerade einmal 112 Seiten, doch es lässt den Leser in die Gedankenwelt der italienischen Renaissance eintauchen und gewährt auf diese Weise auch einen völlig neuen Blick auf Leonardo da Vinci und seine Künste.
Autor: Leonardo da Vinci
Titel: „Der Esel auf dem Eis — Miniaturen“
Gebundene Ausgabe: 128 Seiten
Verlag: Unionsverlag
ISBN-10: 3293004962
ISBN-13: 978-3293004962