Die Erzählstimme dieses Exil-Romans von Irmgard Keun ist ihre zehn Jahre alte Tochter Kully. Sie ist die (fiktive) Tochter von Irmgard Keun und Joseph Roth. Der Roman erschien 1938 im Amsterdamer Querido Verlag. Er ist auch das literarische Zeugnis jener Zeit, in der Keun und Roth nach ihrem Aufeinandertreffen in Ostende zu einem Paar wurden, das gemeinsam trank und schrieb. Die Keun war damals zwar mit dem 23 Jahre älteren Schriftsteller und Regisseur Johannes Tralow verheiratet, doch was heißt das schon in einer Zeit, wo in Deutschland der Hass und die Gewalt regieren?!
Irmgard Keun wurde früh zu einer der berühmtesten deutschen Schriftstellerein ihrer Zeit. 1905 geboren, erlebte sie in den Zwanziger Jahren, wie ein neuer Frauentyp entwickelte, wie die „neue Frau“ mit Selbstbewusstsein ihren Platz in der Gesellschaft behauptete. Diesen neuen Frauen gab die Keun eine literarische Stimme. Schon ihr erster Roman „Gilgi, eine von uns“ war in einer Sprache geschrieben, die von der deutschen Hochsprache der besseren Literatur derart weit entfernt war, dass man Irmgard Keun zunächst in die Schublade „Unterhaltung“ stecken wollte.
Doch die in ihren Büchern durchscheinende Lebensnähe und ihre Fähigkeit, auch mit wenigen Worten die (oftmals gar nicht so goldene) Realität der Weimarer Zeit mit einem grellen Scheinwerfer auszuleuchten, machte diese Einordnung schnell obsolet. Was die Keun schrieb, hatte, wenn man von der seltsamen Sprache ihrer Erzählstimme absah, bei aller Leichtigkeit der Form einen bleischweren Gehalt und eine politische Brisanz, die es erfordert, sie in einem Atemzug mit Autoren wie Kästner, Tucholsky, Tergit oder Kreuder zu nennen.
Was die eigenartige Sprache betrifft, so ist das in „Kind aller Länder“ nicht anders. Die Erzählerin, ihre fiktive Tochter Kully, ist zehn, und Irmgard Keun betrachtet die Welt mit den Augen dieser Zehnjährigen. Es ist ein seltsam distanzierter Blick auf das eigene unruhige Leben in jener aufwühlenden Zeit. Die Nationalsozialisten hatte die erfolgreiche Autorin von Anfang im Visier. Vor allem ihre Bücher brannten am 10. Mai 1933 auf dem Scheiterhaufen der Bücherverbrennung. Obwohl die Keun keine Jüdin war, gehörte sie zu jenen von den Nazis gehassten Intellektuellen und Künstlern, die ein der Weimarer Republik für das Neue standen, für eine neue Gesellschaft und für ein modernes Leben.
In „Kind aller Länder“ beschreibt eine Irrfahrt, eine Odyssee, quer durch Europa, auf der Mutter und Tochter in Hotels wohnen, deren Rechnung sie niemals bezahlen könnten, und in den Wohnungen von Emigranten und hilfsbereiten Freunden ihres Vaters. Dieser literarische Vater ist natürlich Joseph Roth, den die Autorin hier in seinem Getriebensein und seiner Flucht vor allzu viel Nähe wunderbar charakterisiert. Kullys Vater ist die meiste Zeit unterwegs, ist woanders, um Geld zu besorgen, seine Texte an Zeitungen zu verkaufen oder um für seine Geschichten einen Verleger zu finden. Das ist in jenem Europa der Dreißiger Jahre, welches zunehmend unter Hitlers Expansionsstreben leidet, nicht einfach. Und doch schafft er es irgendwie immer wieder, wenigstens das Nötigste zu organisieren, um die Hotelrechnung für seine kleine Familie zu bezahlen und mit ihr sogleich zum nächsten Ort, zur nächste Station jener unendlichen Reise aufzubrechen.
Kully erlebt diese Wanderschaft als völlige Normalität. Sie hat auch längst gelernt, mit unbezahlten Rechnungen und den daraus resultierenden Spannungen umzugehen, die Mutter und Tochter zu spüren bekommen. Der Roman beginnt mit den Worten:
„In den Hotels bin ich auch nicht gern gesehen, aber das ist nicht die Schuld von meiner Ungezogenheit, sondern die Schuld meines Vaters, von dem jeder: Dieser Mann hätte nie heiraten dürfen.“
Keun und Roth haben auch niemals geheiratet. Ob dies überhaupt jemals zur Diskussion stand, darf bezweifelt werden. Aber die Autorin konstruiert aus dieser möglichen Variante ein zweites Leben, das sie und Roth niemals lebten. Es ist die uralte Frage nach dem „Was wäre wenn?“, die hier literarisch ausgeführt wird.
Während die Mutter oft nahe am Verzweifeln ist, vertraut Kully blind auf die Zusagen ihres Vaters. So triumphiert sie mehr als ein Mal: „Ich habe es ja gewusst, ich habe es ja gewusst! Mein Vater ist da.“ Und er befreit sie aus der prekären Situation, in der sie gerade stecken. Das wirkt mit zunehmendem Mal wie der Hilfsgriff zu einem deus ex machina, doch es scheint vor allem ein realistisches Portrait jenes hilflosen und getriebenen Menschen zu sein, den Irmgard Keun während jener Zeit in Joseph Roth kennen und lieben gelernt hatte.
Kully hält diese europäische Wanderschaft ihrer Eltern nicht für eine Flucht, sondern für sie ist es eine Reise, als ob sie ständig unterwegs sind in endlosen Ferien: „Wir fahren nach Paris, dann sind wir woanders. Und wenn wir woanders sind, sind wir wieder einen Schritt weiter und glücklich.“ So wird das Reisen zur Befreiung; der Stillstand jedoch und der Aufenthalt werden zur Warteschleife, zu einem bedrückenden Zustand des Aushaltens, Verharrens und Hoffens. Eng damit verknüpft ist die Angst.
Dieser Roman ist im Exil geschrieben worden. Keun und Roth hassten beide Hitler und sein Regime von ganzem Herzen. Was er aus Deutschland machte, konnte in ihnen nur Abscheu hervorrufen. So ist es auch konsequent, dass die Autorin Kully Vater, jener fiktiven Variante von Joseph Roth“, an einer Stelle in einem Gespräch mit Holländern das Wort erteilt und seine Sicht auf Nazi-Deutschland sehr deutlich formuliert:
„Alles Unheil der Welt beginnt mit der Angst. Ich sehe nicht ein, warum Menschen sich Gott als einen modernen Diktator vorstellen müssen, der die Leute mit Maulkörben und Handschellen im Kreis herumlaufen lässt. Der ganze Dreck in Deutschland konnte nur entstehen, weil man die Menschen dort seit ewigen Zeiten in Angst gehalten hat. […] Zuerst haben sie Gott zu einer Art Diktator gemacht, jetzt brauchen sie ihn nicht mehr, weil sie einen besseren Diktator haben.“
„Kind aller Länder“ liest sich spannend und in einem Rutsch, wie alle Romane von Irmgard Keun. Die leichte und luftige Sprache täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass es sich hier um die knallharte und prekäre Realität einer Emigranten-Familie auf der Flucht vor dem Nazi-Terror handelt, die von einem jungen Mädchen erzählt wird. Durch seine kindliche Erzählstimme wird aber auch deutlich, dass Kinder diesen Terror oftmals gar nicht als eine reale Bedrohung ihrer eigenen Existenz empfanden. Sie vertrauten auf ihre Eltern und konnten so länger als jene die Hoffnung aufrechterhalten, dass alles gut würde.
Irmgard Keun und Joseph Roth hatten sich schon bald wieder auseinandergelebt. In seinen letzten Jahren war Roth, vom Alkoholkonsum gezeichnet, ein schwieriger Lebensgefährte, zu schwierig für eine junge Schriftstellerin, die zwar ebenfalls dem Alkohol zusprach, aber die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft noch nicht begraben hatte.
Die Autorin ging kurzzeitig nach Amerika, kam dann 1940 über Frankreich mit gefälschten Papieren wieder zurück nach Deutschland, wo sie sich bei ihren Eltern in Köln versteckte, bis das Tausendjährige Reich zusammengebrochen war. Der Krieg war vorbei, und man vergaß die Erfolgsschriftstellerin der Vorkriegszeit, abgesehen von kleine Neuauflagen ihrer erfolgreichen Romane, derart gründlich, dass sie selbst und ihre Bücher erst in den späten 1970er Jahren, kurz vor ihrem Tod 1980, wiederentdeckt wurden und wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerieten.
„Kind aller Länder“ ist das bewegende Zeugnis einer unsteten Zeit, einer Zeit des Auf- und Umbruchs, der hier exemplarisch die Odyssee zweier Schriftsteller-Eltern und ihrer gemeinsamen Tochter im europäischen und amerikanischen Exil erzählt. Die kindliche Leichtigkeit der Erzählweise kontrastiert stark mit den beinharten Realitäten eines Lebens im Exil und in der permanenten Angst vor der Vereitelung ihrer gemeinsamen Flucht vor dem Bösen.
Autor: Irmgard Keun
Titel: „Kind aller Länder“
Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN-10: 346204897X
ISBN-13: 978-3462048971