Karen Duve: „Macht“

Karen Duve: "Macht"Wir schreiben das Jahr 2031. Die Welt ist kalt geworden. Ganz anders das Klima: Hitzewellen wechseln sich ab, Dürrekatastrophen und Überschwemmungen sorgen für unwirtliche Lebensbedingungen. Der verordnete Staatsfeminismus, der Vegetarismus und die allgegenwärtige Vernetzung aller Lebensbereiche machen die Sache nicht besser.

Es ist eine Zeit, in der die Jungen Racke und die Mädchen Binja-Bathseba genannt werden. So wie die Kinder von Sebastian und Christine. Christine war Ministerin für Umwelt, Naturschutz, Kraftwerkstilllegung und Atommüllentsorgung; seit zwei Jahren ist sie verschwunden, aber sie ist nicht tot. Sie lebt im Prepper-Raum des Hauses, backt Kekse und ist Basti auch sexuell zu Willen.

Dann trifft man sich zum 50-jährigen Abitreffen in einer Hamburger Kneipe. Die meisten sehen aus wie um die Dreißig; dank der Ephebo-Pillen, die den Alterungsprozess nicht nur aufhalten, sondern sogar rückgängig machen können. Das Risiko liegt in einer etwa 60 Prozent hohen Krebsrate der Tablettenschlucker. Es gibt nichts umsonst in diesem Leben. Auf dieser Feier begegnet Sebastian seiner Jugendliebe Elli, die immer noch so jung und schön ist wie damals. Damit beginnt die Geschichte, an Fahrt aufzunehmen. Alles wird komplizierter und nimmt ungeahnte Wendungen.

Duve hat diese Machtspiele, die sich hier vielschichtig und auch in unterschiedlichen Konstellationen ergeben, fein beobachtet und auch aus verschiedenen Quellen erschlossen, auf die zwar am Ende des Buches hingewiesen wird, die jedoch nicht explizit genannt werden. Wenn man sich den Plot vor Augen hält, wie er im Klappentext des Buches beschrieben wird, stellt sich den Rezensenten unwillkürlich die Frage, ob er das wirklich lesen müsse, was sich eine Autorin zum Thema Macht, Sex und Gewalt in der nahen Zukunft ausdenkt. Die Antwort wäre in den allermeisten Fällen: nein. Doch Karen Duve verfügt über eine seltene Gabe – nämlich, den Leser in eine Welt zu entführen, die in ihrer Beschreibung von hoher Kohärenz und Schlüssigkeit geprägt ist.

Es ist die Aufgabe und das Vermögen von Geschichten, uns in eine Welt zu führen. Die wir im realen Leben niemals betreten würden oder könnten. In diesem Fall sind wir durch die Gabe der Erzählerin sogar in die Lage versetzt, in die nahe Zukunft zu reisen. Denis Scheck bezeichnet die Literatur zurecht als die „einzig funktionierende Zeitmaschine, die wir kennen“.

Sie hat mit „Macht“ die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Zeit linear in die Zukunft projiziert, was natürlich nicht immer zu einem befriedigenden Ergebnis führt. Doch darum geht es auch gar nicht. Entscheidender ist die Konsequenz, mit der die Autorin das Gedanken-Experiment in ihrer Versuchsanordnung ablaufen lässt: ein Psychopath, eine gefangene Frau, eine Jugendliebe, die in die „heile Welt“ einbricht und dadurch die festen Machtstrukturen und die klaren Verhältnisse dynamisiert und in Frage stellt.

Karen Duves neuer Roman ist spannend geschrieben, voller interessanter Projektionen in die Zukunft unserer Gesellschaft und liest sich in einem Rutsch weg, obwohl er mit seinen 414 Seiten schon eher ins Feld der vollschlanken Bücher gehört. Der Roman ist für zartbesaitete LeserInnen nicht geeignet, soviel sei verraten. Er gehört dennoch nicht zur Abteilung Thriller. Ein Krimi ist er aber auch nicht, denn die Polizei kommt erst am Ende der Geschichte ins Spiel; einen Detektiv wird der Krimileser vergeblich suchen. Als was kann man dann aber den Roman bezeichnen? – Vielleicht könnte man Karen Duves „Macht“ noch am ehesten als einen „psychologischen Roman“ bezeichnen, wenngleich es den Charakteren ein bisschen an Tiefe und Ambivalenz fehlt, um wirklich als reale Personen zu erscheinen. Diesen Nachteil macht die Autorin jedoch durch das Tempo ihres Plots wieder wett.

Fazit: Wer einen spannenden Roman sucht, der in einer uns nicht ganz unähnlichen Zeit spielt und dabei utopische Elemente einer gesellschaftlichen und politischen Projektion mit einer schnörkellosen Sex- und Crime-Story verbindet, ist mit Karen Duves neuem Roman gut beraten. Viel Spaß beim Gruseln!

 

Autor: Karen Duve
Titel: Macht
Gebundene Ausgabe: 416 Seiten
Verlag: Galiani-Berlin
ISBN-10: 386971008X
ISBN-13: 978-3869710082